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#71 // Sie



Im Kindergarten war sie das Gefühl, abgeholt zu werden. Ein vertrautes Gesicht vor einer Ziegelsteinwand, das eine Treppe hinauf kam. Sie war eine weiche Hand, die eine Träne zurück in die Haut streichen konnte. Eine warme Stimme, die durch alle Wände kam. Sie war die Sicherheit, die man nicht zu schätzen wusste, aber auf jeder Stulle schmecken konnte. Manchmal war sie auch der Blick aus dem Fenster unter den Gardinen hindurch. Der Moment, in dem sie die Straße hinunter kam. Wegen ihr wollte ich von zuhause weg und wieder hin. Es gab nur sie und sonst keine. Sie war das schwarze lange Haar, das in der Sonne Funken schlug. Sie war das einzige Wort, das ich ganz und gar verstand. Ihre Umarmung war das Superheldencape für ein Leben, das sich dauernd die Knie aufschlug und vom Fliegen noch keine Ahnung hatte. Sie war der Anfang. Sie ist der Grund.

In der fünften Klasse saß sie in der ersten Reihe. Sie war ein Feuersalamander in der Brust, der noch kein Feuer hatte. Sie war mal da und mal nicht. Sie war der heiße Stein, der gerade erst ins Rollen kam. Sie war blond und roch nach Süßigkeiten. Und abends wollte sie, dass ich an sie denke, obwohl ich das gar nicht wollte. In den großen Pausen, da rannte sie an mir vorbei und ich musste immer wissen, wo sie stand. Sie war das Aussetzen des Sprachzentrums im falschen Moment. Sie war ein Pfefferkuchenherz vom Rummel vom letzten Taschengeld. Manchmal schoss ich die Gummiflutsche ein paar Meter weiter, weil sie zuschaute. Sie war ein Schneeball mit Sternchen drin, der sie ins Auge traf. Sie war das „Bleibt geheim“ in den Poesiealben unter „Wen ich mag“. Ein Traum war sie, der aus dem Nichts kam und auch dahin führte. Sie war ein unsichtbarer Kuss, von dem keiner wusste, wie er eigentlich geht. Sie war das heimliche Kind von Doktor Sommer.


Mit 15 war sie eine ganze Nacht wach. Sie hatte jetzt einen Körper. Sie war der Film für Erwachsene, der jetzt auch nachmittags lief. Ein Date an einem See auf einer Parkbank war sie. Die Decke auf der Wiese im Juli. Die Beine eingeschlafen und mit Durchblutungsstörungen, aus Angst sich zu bewegen. Das Blut im Süden. Sie war ein niemals abgeschickter Brief, geschrieben in einer langen Nacht. Ein Bravo Liebesgedicht, so kitschig, dass es wahr sein musste. Das Poster an der Wand für den feuchten Teenietraum. Sie war Pamela Anderson mit Zahnspange. Sie war ein unerreichbarer Traum, der auf Jungs aus den höheren Klassen stand. Sie war ein kurzes Lächeln auf dem Schulhof, das für Wochen reichte. Sie war ein trauriges Lied, das die Nachbarn nach einer Woche mitsingen konnten. Sie war der erste Kuss an einem Strand bei Sonnenuntergang. Eine Sternschnuppe, die in eine leere Zigarettenschachtel fiel. Sie war ganz nah und doch so fern. Es mussten Gedichte über sie geschrieben werden. Sie war das Stirnpickel am Abend vor einer Verabredung.


In den letzten Schultagen war sie ein Stroboblitz an einem Freitagabend auf dem Kassberg. Der heimliche Blick aus dem Schatten. Ein heller Umriss hinter einer weißen Kiffewolke. Der letzte Schluck in einer Flasche lieblichen Weißwein im warmen Regen auf einer Wiese. Sie bedeutete nichts. Sie konnte jeder sein. Sie wollte nichts. Sie war das schärfste Messer, das durch jede Rippe kam. Sie war ein gedachter Kuss auf einem Autodach nach Mitternacht im Sternmühlental. Die Gewissheit, dass am Platz unter den Kastanien immer jemand saß. Sie war ein Brief in dem stand “Ich bin noch nicht so weit“. Sie war ein Freund, der nächtelang zuhörte und am Morgen danach nichts mehr wusste. Sie war der Fressflash nach einem Bongkopf. Sie war ein Kommen und zwei Gehen. Beim Blick in den Spiegel war sie unsichtbar. Sie war nur die anderen. Ein schwarzweiß Poster von Jim Morrison. Ein Abend am See mit Trommel und Gras. Sie wollte heimlich mit dem Auto mitfahren und ein paar Meter vor ihrem Haus raus, damit ihr Vater der Pfarrer uns nicht sah. Sie war die Königin im Nebel der Nacht. Auf ewig unangesprochen. Sie war der Moment, als der Beat einsetzte. Sie wusste noch nicht, wer sie war. Sie war das große Gefühl, das sie sein konnte.


Während des Studiums war sie eine Philosophie Vorlesung morgens um sieben. Eine Ahnung von der großen Weisheit in der ersten Reihe. Sie war die müden Augen nach einer Nacht der Erkenntnis. Sie war das Vergessen nach drei Falschen Wein auf einer Bank am Südplatz. Mit braunen kurzen Locken. Sie war ein Zettel auf dem Gepäckträger, der nie gefunden wurde. Sie konnte nächtelang in der Küche sitzen und reden. Sie konnte jeder sein, der es ehrlich meinte. Sie kam spät und ging früh. Sie schlief nebenan, sie war laut, wenn sie kam. Und kam morgens nur rüber, um nach Papers zu fragen. Sie ließ mich bei sich schlafen und sagte, dass ich nicht gehen darf. Und dass nichts ging. Sie war eine Nacht auf den Händen schlafen und morgens Lala Döner frühstücken. Sie war das Seufzen zu The Knife und das Moshen zu Refused. Sie war eine Kellerparty, auf der man hätte jeden küssen können, aber dann vergeblich auf die richtige wartete. Eine queere Hoffnung auf einen fremden Körper neben sich. Sie war eine einzige Suche, bei der man tausend mal berührt wurde. Sie war das Nichtsfinden in einem Meer von Möglichkeiten. Sie betrog ihren Freund aus Versehen und hörte mittendrin auf. Sie tanzte so schön, dass ich vergaß nach Hause zu gehen. Sie war ein feuchter Fleck auf dem Laken nach dem Aufwachen. Sie war nichts und wollte alles.


Mit 25 war sie ein Moment in einem Kreissaal morgens halb fünf. Sie war der Moment, in dem sich der Kreis schloß. Sie war ganz warm und schlief und sie durfte nicht runter fallen. Sie war eingeschlafene Arme und tote Beine in einem Sitzkissen für Schwangere mit alten Blutflecken. Sie war wunderschön. Sie hatte die Nase von Whoopi Goldberg und die Augen von Bud Spencer. Sie war nicht mal der Hauch einer Ahnung, aber das größte Versprechen. Sie war die kürzeste Nacht. Sie war das Licht, das niemals ausging. Ein Atemzug in der Stille, der vorher nicht da gewesen war. Eine Brechstange, geworfen von einem Elefant aus Porzellan in ein leeres Gewächshaus. Wenn sie lachte, war sie alles. Wenn sie weinte auch. Sie hat auf den Kopf gestellt, was aufs Herz gehörte. Sie hat dabei Händchen gehalten. Sie hat mir gezeigt, wer ich sein kann. Und wer ich für sie sein will. Sie war achthunderttausend Gigabyte Fotos auf einer Festplatte. Sie war jeden Moment wert.


Heute läuft sie nicht mehr aus Schnapsflaschen. Sie fließt in der Blutbahn. Heute weiß sie, wo sie gestern geschlafen hat. Sie kommt nicht mehr zuerst, nur wenn sie es will. Sie kommt nicht mehr mit dem letzten Bus. Sie hat die Nacht verloren aber die Tage gewonnen. Sie geht nach dem ersten Klingeln ran und sie schreibt zurück. Sie weiß, wie sie es mag und sie sagt, wie sie es fand. Manchmal tanzt sie vor dem Kühlschrank zu einem Lied, das nur sie hört. Sie ist nicht mehr die Angst, die einen auf die Straße treibt. Sie ist die Hoffnung, die einen morgens aufstehen lässt. Sie ist immer noch das Feuer, das aus der Tiefe kommt. Sie ist nicht mehr die Lava, die verbrannte Erde an den Hängen zurücklässt. Sie ist das Gefühl, verstanden zu werden, auch wenn man mit einer Weinflasche im Mund Lieder singt. Sie ist der Hafen, in dem die Häuser am Wasser auf die Flut vorbereitet sind. Sie ist ein Sommerspaziergang zum Park zu viert, von dem jeder weiß, dass er irgendwann vorbei sein wird. Sie ist alles, was sein soll.


.felix wetzel.

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