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  • AutorenbildFelix

#70 // Ein kleiner Sturm



Heute morgen wache ich auf nach einer Nacht mit schrägen Träumen. Und mein Bett steht nicht mehr da, wo es gestern Abend noch gestanden hat. Die Lampe hängt nicht mehr in der Mitte über der Bettdecke. Zwischen der Rückseite und dem Rahmen ist ein breiter Spalt. Die Eule liegt unten zwischen den Staubfäden und glotzt blöd nach oben. Das kleine Regal an meiner Kopfseite ist jetzt genau so weit entfernt, dass ich im Liegen nicht mehr an die Lampe heran komme. Vom Haus gegenüber kann ich jetzt ein Fenster sehen, das sonst im Mauerschatten liegt. Es ist schmutzig und der Rollladen hängt etwas schief. Dafür ist auf der anderen Seite eins außer Sicht geraten. Irgendwas ist immer. Irgendwas ist.


Draußen auf der Straße steht kein Auto richtig in seiner Lücke. Alle touchieren leicht die weißen Linien, als hätten sie sich dazu verabredet. Unser Kombi steht noch im Parkverbot. Als wär nix. Als ich um die Ecke auf die Straße biege, schiebt mich etwas von hinten. Ich drehe mich um und gucke, aber da ist nichts. Nur die Konsequenz der Dinge. Ich versuche stehen zu bleiben, stemme mich dagegen, aber was auch immer es ist, es schiebt mich sehr bestimmt einfach weiter über die Gehwegplatten. Das komische Gefühl geht nicht weg. Meine Schuhe knirschen auf den Streukieseln. Ich höre auf, mich dagegen zu wehren und lasse mich zur Straßenbahn schieben. Die Leute, die mir entgegen kommen, merken nicht, dass ich gar nicht selbst gehe, sondern gezwungen werde. Oder es ist ihnen egal. Vielleicht schieben sie mich auch und ich merke es nur nicht.


Als ich am Nachmittag ein Buch aufschlage, sind die Buchstaben verrutscht. Manche fallen über den Rand auf das Bett. Andere hängen sprachlos zwischen den Zeilen. Die Sätze klingen jetzt komisch, aber ich kann nicht darüber lachen, weil ich den Witz an der ganzen Sache hier noch nicht verstehe. Als ich den Receiver anschalte, gehen zuerst die kleinen grünen Lampen an. Und erst dann, nach einer kleinen Ewigkeit, klickt es im Gerät. Das passt nicht, das müsste gleichzeitig passieren. Im Fernsehen in den Nachrichten sprechen sie über Schnee. Der ist so schön weiß. Und macht alles ruhig. Die Welt sieht stehen geblieben aus. Ein Paradies ist das. Die meisten Leute im Schnee sehen das nicht so. Sie wollen nicht in ihren Häusern sitzen. Stillstand gefällt nur denen, die sich an einem angenehmen Ort befinden. Bild und Ton passen nicht zusammen, wie bei schlecht synchronisierten Filmen. Der Reporter sagt, die Leute sind mit den Nerven am Ende, aber sonst wäre noch nichts schlimmes passiert. Ich frage mich, wo da die Neuigkeit ist. Und noch während er den Satz zu Ende sagt, schaltet das Bild schon auf die Wetterkarte um.


Ich mache mir einen Tee. Abendtee um die Mittagszeit. Der macht so schön ruhig. Auf dem Regal in der Küche sehe ich dein Bild. Es ist gemacht worden, kurz bevor sie dich geholt haben. Du bist schon tot darauf. Aber irgendwie sieht man das nicht. Es könnte auch ein Satellitenbild sein oder eine Wetterkarte. Mit einem kleinen Sturm in der Mitte. Wir haben es da hin gestellt, damit du bei uns sein kannst. Oder damit wir bei dir sind. So genau wissen wir das selbst nicht. Neben deinem Bild steht Salz, ein paar Flips für das kleine Baby und eine alte Postkarte von der Fusion. Cornflakes auch für die große. Du stehst da an eine Vase gelehnt, als wäre es ganz normal, dass du da stehst. Mitten unter uns. Die Pflanze in der Vase gedeiht, aber dich mussten sie rausholen aus deinem Wasser. Mitten aus uns. Du fällst gar nicht auf, wie du da stehst. So normal ist das, dass du da bist. Was auffällt ist, dass das Regal nicht mehr da steht, wo es gestern Abend noch stand. Ein Rand aus Krümeln auf der Küchenplatte zeigt das an. Du Krümel.


Ich starre aus dem Fenster und sehe den Raben dabei zu, wie sie in unser Fenster starren. Das Haus schiebt sich ganz langsam durch unsere Straße. Es ist ein bißchen wie im Zug, wenn der aus dem Bahnhof losfährt. Man denkt kurz, die Welt würde losfahren, dabei schiebt man sich selbst weg. Es ist alles noch an seinem Platz, aber von hinten drückt etwas. Es drückt das Haus, die Schuhe im Flur, die M2 zum Alex, es drückt uns. Es drückt uns weiter. Es gibt dieses Lied von Glashaus, Haltet die Welt an, heißt das. Ich fand das immer kitschig. Ich finde das auch jetzt noch kitschig, aber jetzt verstehe ich es. Freunde schreiben Nachrichten. Kopf hoch, steht darin. Manche machen schlechte Witze. Was sollen sie auch schreiben. Danke, schreiben wir, und ja, machen wir. Was sollen wir auch anderes schreiben. Es gibt nichts mehr zu sagen, wo nichts mehr ist. Dabei ist da eigentlich was. Stille. Aber die soll nicht sein, sie darf es nicht. Von hinten drückt die Notwendigkeit die Stille zurück in den Lärm. Langsam aber sicher. Nichts fühlt sich richtig an, weil nichts mehr so richtig an seinem Platz ist. Was ist schon richtig.


In der Krankenhauskantine gab es an deinem letzten Tag Lasagne als Menü 1 und überbackenen Ziegenkäse als Menü 2. Und die männliche Bedienung an der linken Kasse hat mir nicht in die Augen geschaut. Als ich fertig war mit Essen und raus ging, stieß ich mit der Schulter an den Türrahmen. Ich hätte schwören können, dass der letztes Mal ein Stück weiter rechts war. Als die Ärztin dann mit uns gesprochen hat, da hat sie ganz leise geredet. Sie hat leise geredet und immer wieder Lippen und Augen zusammengekniffen. Als ob sie selbst ein wenig Schmerzen hätte. Gesagt hat sie, dass das leider normal ist. Traurig. Aber eben normal. Der Eingriff: Routine. Ich weiß warum sie das gesagt hat, aber ich würde es nie so nennen. Und dass wir danach direkt nach Hause könnten. Wobei ich mich kurz gefragt habe, was wir da wollen.


Niemand kann etwas dafür, wir nicht, der kleine Sturm nicht, unsere Freunde nicht, unsere Jobs nicht, die Welt nicht, die uns weiter dreht. Wenn keiner Schuld hat, wo geht dann der Schmerz hin. Wenn alles normal ist, wo gehen Verrückte wie wir dann hin. Die Ärztin hat noch gesagt, dass sie uns viel Glück wünscht. In diesem Moment schob sich die Stadt langsam um unser Bett herum weiter. Die Klinik zog sich von unseren Köpfen wie eine Skimaske. Wir rollten raus auf die Straße, die Petersburger runter bis auf die Kreuzung Otto Braun. Die Häuser wichen ein Stück nach hinten in ihre Höfe zurück. Den Autos rutschten die Reifen von den Felgen. Die Menschen gingen mit leeren Gesichtern, in denen die Nasen schief hingen, ihrer Wege. Hinter uns drückt die Zukunft, vor uns wartet das Leben. So wie es eben ist. Verrückte Routine. Und die Wetterapp zeigt für morgen viel Wind an.


.felix wetzel.

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