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#69 // Käptns Tochter



Das erste Mal habe ich sie gesehen, da stand sie am Ufer der Tramgleise Fröbelstraße. Der Wind hatte sich in ihren Haaren verfangen. Der saß da zwischen den blonden Dünensträhnen und baumelte hilflos mit den Beinen. Ihre Augen suchten währenddessen den Horizont nach Sturm ab. Ich ging an ihr vorbei und es roch nach Salz. In ihren Boddenaugen sah ich das Meer, das trüb geworden war. Mit ihren Fingern drehte sie einen Kreuzknoten in eine Zigarette, zwischen ihren Lippen verdunstete weicher Küstennebel. Die erste gelbe Fähre ließen wir fahren, ohne uns abzusprechen. Wir standen da eine Weile und blickten unsere Küstenlinien entlang. Ich fragte sie dann nach Feuer, weil das ging, ohne an Land zu gehen. Vom Grund ihres Mantels holte sie eine Flamme hervor und reichte sie mir. Eine Hand legte sie schützend gegen die Gischt. Die Zigarette schmeckte nach frischem Teer vor dem Nordkap. „Nimm nicht zu viel davon. Ich brauche das für die Nacht“, sagte sie. „Was, wenn ich damit einen Leuchtturm anzünde“, fragte ich. Sie überlegte ein Wellental lang. „Du kannst nicht das rettende Ufer und die weite See zugleich sein.“ Ich gewann Land und sie trieb die Prenzlauer hinunter.


Bei unserer zweiten Begegnung fand ich sie auf einer Backbordsteinkante sitzend. Neben ihr ein gestrandetes Schiff. Es war auf Grund gelaufen in der Duncker. In seinem Rumpf sah ich ein kleines Loch, etwa so groß wie der Blick auf den Heimathaften durch ein Fernrohr. Sie hatte den Kopf auf ihre Knie gelegt und schaute in die Brandung. „Worauf wartest du?“ fragte ich sie. „Auf die Flut, mein Junge.“ „Was, wenn ich die Flut bin“, fragte ich zurück. Da lächelte sie und strich mir den Sand hinter den Ohren hervor. „Wenn du die Flut bist, dann bin ich die Ebbe. Weißt du, was das Problem mit den beiden ist?“ Ich schüttelte den Kopf und die leeren Muscheln in meinem Kopf klapperten. „Sie treffen sich nie länger als den Moment, in dem sie den anderen zerstören.“ Für einen Augenblick lang war Flaute in unserem Gespräch. Dann legte ein kleines Boot neben uns an und rettete uns. Ein junger Fischer saß darin und winkte ihr zu, er trug einen schwarzen Kabeljaubart im Gesicht. Sie stieg ein und das kleine Boot fuhr davon. Ich schaukelte noch eine Weile in ihrer Bugwelle. Dann sank ich nach Haus.


Ich habe dann auch einmal von ihr geträumt, das war nicht lange nach dem Schiffbruch. Wir waren im Traum zusammen auf ihrer Insel, auf der sie ihre Mutter am Strand gefunden hatte. Die Insel war kräftig grün und drückend grau. Von oben strich der Regen die Gesichter nach unten. Die Luft war ehrlich. So kalt, wie die Wahrheit nur sein kann. Wir fuhren mit einem kleinen Auto einmal rund herum. Sie zeigte mir ihre liebste Bucht. Es gab dort keinen Stein, der nicht ihre Fingerabdrücke auf sich hatte. Sie zeigte mir ihre Klippe. Es gab dort keine Richtung, in die ihre Gedanken nicht schon geflohen wären. Sie zeigte mir ihre Taverne. Das Bier schäumte wild und wühlte ihre See auf. Und sie stellte mir ihren Vater vor. Ein großer grauer Mann, gebeugt von der Brandung. Er war lange Kapitän auf dem Postboot gewesen, das jeden Tag zwischen Festland und Insel hin und her fuhr. Sie stellte mich vor und der Kapitän schaute mich an. Dann fragte er: „Bist du schon mal auf einem Schiff gefahren, ohne zu wissen, ob du jemals wieder an Land kommen würdest?“ Ich überlegte die eine oder andere Seemeile lang. Dann schüttelte ich die Boje auf meinem Hals. Er schaute traurig erst zu mir, dann seine Tochter an. Aus seinem Kopf wuchs ein schmaler langer Tintenfischarm, der sanft über ihre blasse Wange strich. Sie lächelte. An der Wand hing ein Stück zersplittertes Holz auf einer Plakette. „Der Untergang ist sicher“ stand auf einem kleinen goldenen Schild darunter. Der Käpt’n seufzte und ging in seinen Sofakissen unter. Als ich aufwachte, war mein Kopfkissen nass.


Das eine Fenster in ihrem Zimmer war ein Bullauge. Direkt neben ihrem Bett war das. Es war immer ein wenig beschlagen im unteren Bogenteil. Ein kleiner bronzener Haken wachte über drinnen und draußen. Einmal wachte ich morgens bei ihr auf und das Auge war einen Spalt offen. Nasse Fußabdrücke krochen über das schmale Vordach. Neben mir das Bett war noch warm, aber sie war nicht da. Auf meinem Gesicht trocknete ihr Salz. Ich schaute durch das Auge nach draußen rüber ans andere Ufer und da sah ich sie. Am Ufer der Straße mit einem großen Wal. Aus dem Luftloch des großen Weißen entwisch zischend die Luft und spielte ein altes Seemannslied. Sie saß daneben, mit nichts am Körper außer einem dünnen Segeltuch und kraulte dem Tier die Barten. Ich schaute ihnen eine Weile zu. Die Wellen brandeten um sie herum. Der Sand kräuselte sich an ihren Schläfen. Ein paar Muscheln saugten sich an ihren Beinen fest. Ein paar Möwen pickten ihr liebevoll das Plankton aus den Haaren. Glücklich sah sie aus, dort zwischen ihresgleichen. Ich ließ das Auge offen und zog mich an. Im großen Spiegel neben ihrem Bett sah ich, dass sich zwischen meinen Fingern Schwimmhäute gebildet hatten. An meinem Hals waren Falten, die wie Kiemen aussahen.


Das Atmen fiel mir hier schwer. Hier konnte ich nicht bleiben. Also sprang ich in die Flut und ließ sie zurück. Der Wal würde ihr Lieder singen, bis sie einschlafen konnte. „Ich bin wie das Salz im Meer“ hatte sie mal zu mir gesagt. „Du verdurstest, wenn du zu viel von mir trinkst.“

Ein paar Monate später kam ich abends nach Hause. Auf den Stufen lag überall weißer Sand. Jeder Schritt nach oben knirschte. Es roch nach Schwefel und Abschied. Vor meiner Tür auf der Matte lag eine Flaschenpost. Eine dunkelgrüne Weinflasche mit einem hellen Korken darauf. Das Etikett war abgegangen, dafür hatte das Salz sich ins Glas gebissen. Ich ging hinein und öffnete. In der Flasche war ein eingerolltes Palmenblatt, auf das jemand mit einem spitzen Gegenstand etwas geschrieben hatte. „Du warst wie eine Insel für mich. Zuhause und doch zu wenig. Trauer nicht um mich, Seemann. Wir sind nicht unser Element.“ Ich setzte mir eine Augenklappe auf und beschloss sie so lange zu tragen, bis die Totenkopfflagge in mir in Fetzen hing. Dann legte ich das Palmenblatt in einen Kochtopf und kochte es so lange, bis die Schrift und das Grün verschwunden waren. Dann nahm ich das weiße Blatt heraus, bestrich es mit Salz und hing es an die Leine vor mein Fenster. Und als es am nächsten Tag trocken war, schrieb ich darauf diesen Text.


.felix wetzel.

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