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  • AutorenbildFelix

#64 // Trassenheide



Durch den Kieferwald den Hügel hinauf. Über knisternde Nadeln und knirschende kleine Kiesel. Den engen Weg durch das Holztor, das nicht mehr richtig schließen kann. Am Ferienhaus mit grünem Moos auf dunklem Holz vorbei. So lang die Treppe hinauf, bis die Dünen über der Kante aufgehen. Auf ein paar morschen Holzstufen im Sand nach unten zum Hauptweg, der die Seebäder verbindet. Warten bis die Fahrradfahrer vorbei sind, hinein in den tiefen weißen Sand. Schuhe aus. Die schmale Dünengasse entlang, durch das Grasspalier. Dann nach rechts, am Strandhorizont entlang. Überall ist Himmel, oben und unten. Etwa zwanzig Schritte. Dort sitze ich und denke an den Moment, als sich das Unbekannte in mir einen Platz gesucht hat.


Am Ende der Zeltplatzstraße stand eine Telefonzelle. Ein gelbes dünnes Glashaus mit zerkratzten Scheiben. Und alle Kinder saßen dort, jeden Abend nach dem Essen im großen Gemeinschaftsraum. Sie riefen ihre Eltern an. Oder lachten die aus, die ihre Eltern anrufen mussten. Oder beides. Da hat sie gesessen. Braune Haare zum Pferdeschwanz, rote Wangen und große braune Augen. Ich hab sie nicht gleich erkannt, aber heute weiß ich es sicher. Da saß die Liebe an einem warmen Abend im Juli. Und wartete. Nicht auf mich. Sondern darauf, gefunden zu werden. Sie schaute mich an und ich schaute sie an. Und wir konnten nicht mehr wegschauen. Die ganze nächste halbe Stunde nicht. Ich verschenkte meinen Platz am Hörer einmal, zweimal, bis sie mit ihren Freundinnen die Zeltplatzstraße zurückging. Ich schaute ihr nach. Verstand nichts. Aber fühlte alles.


Ich war das erste Mal von zuhause weg. Es kam mir so weit vor, es gab gefühlt kein Zurück. Abends war ich in Karl Marx Stadt in den alten Ikarus Bus eingestiegen. Weißes Dach, rotes Fundament. Der Bus war eine klappernde Zeitmaschine, die Sitze quietschten, die Rücklichter flackerten, der Motor stotterte. Vorbei ging es am schlafenden Dresden im Tal, am großen Berlin mit dem gelben Licht im Himmel, an dunklen Wäldern und verlassenden Parkplätzen entlang bis die Luft anders schmeckte. Und am nächsten Morgen stieg ich aus dem Ikarus und machte zaghaft große Schritte. Wir legten unsere Taschen in einen kleinen Raum im Haupthaus. Dann erklärte uns jemand die Regeln. Wir vergaßen sie schnell und liefen zum Strand. Die Sonne ging gerade auf, die Gischt war vom Morgentau nicht zu unterscheiden. Wir großen Kinder verteilten uns am Strand, die Betreuer rauchten Zigaretten. Alle zogen die Schuhe aus, wir vergruben Teile von uns im Sand, kosteten das Salz und pumpten Bälle auf. Irgendwo im süßen Duft der Kiefern und dem herzhaften Salz der See erblickte etwas das Tageslicht, das vorher tief geschlafen hatte. Und es atmete zum ersten Mal tief ein.


Ich musste an sie denken. Das war etwas Neues. Dieses Denken müssen. Es fühlte sich auch gar nicht wie Denken an, eher wie Brennen. Ich musste an sie brennen. An die Telefonzelle, in der es nach Tränen und Ausreden roch. Daran wie die Sonne hinter ihr untergegangen war. An ihren kurzen Rock. Die ganze Zeit brannte es. Sogar beim Essen holen schaute ich durch die Welt hindurch in ihre Richtung. Und da stieß ich dann auch mit ihr zusammen, während ich an sie dachte. Wie ausgedacht. Mit unseren Tabletts rannten wir uns über den Haufen. Auf unseren Tellern lagen weiche weiße Makkaroni verstreut. In unseren Herzen spritzte die Limonade über den Glasrand. In ihren Augen war etwas, das sah aus wie Angst. Angst vor mir und vor dem, was mit uns passieren würde. Ich weiß nicht, was in meinen Augen war. Aber es muss wie eine kaputte Lavalampe ausgesehen haben. Wir entschuldigten uns beieinander und setzen uns auf unsere Plätze. Sagten nichts. Aßen nichts. Guckten nur rüber. Nach dem Essen fragte ich sie draußen, ob sie sich später mit mir auf die Tischtennisplatte setzen wollte. Woher ich das konnte, konnte ich mir nicht erklären. Sie wollte tatsächlich. Wir waren dann zu viert. Das war okay, es fühlte sich normaler an. Da saßen wir dann, knusperten mit Katroffelchips und redeten drum herum. Mir ist dann meine Chipstüte vor Aufregung geplatzt. Später hat sie gesagt, dass sie mich da mochte. Später im Zelt war so viel in mir drin, dass ich reden musste. Mein Zeltmitbewohner schlief schon, da versuchte ich immer noch zu fassen, was nicht zu fassen war. Und konnte den nächsten Tag nicht erwarten.


Wir Sachsen schliefen in kleinen engen Zelten. Die Berliner in langen flachen Holzbaracken mit quietschenden Doppelstockbetten. Die Fensterbretter waren genau so hoch, dass man sich daran hochziehen und hineinklettern konnte. Nach dem Abendessen saßen wir oft davor in der weichen Luft und raschelten mit unseren feuchten Flügeln. Ich hätte gern das Gesicht meiner Mutter gesehen nach unserem Telefongespräch am ersten Abend. Ich bin froh, dass sie mich nicht abgeholt hat, so wie ich es von ihr verlangt habe. Ich weiß gar nicht, was für einer ich geworden wäre, hätte sie es wirklich getan. Am dritten Abend rauchte ich meine erste Zigarette. Sie schmeckte würzig, es brannte, ich musste husten und die großen Jungs in den weiten Sportpullis lachten. Aber ich mochte es. Mein Herz schlug schnell, mir war ein bisschen schwindelig. Ich fühlte mich gut, stark fast. Black Death stand auf der Schachtel und irgendwo im Hintergrund leierte Self Esteem von Offspring aus einem Kassettenrekorder.


Ich hab sie jeden Tag gesehen. Sie war das erste und das letzte, an was ich dachte. Jede Minute ohne sie war nicht auszuhalten. Heute wäre ich sofort verrückt, wenn ich jemanden so mögen würde. Heute wäre es kitschig und niemand würde es mir glauben. Damals war es das erste Mal. Es war einfach da. Deshalb hab ich einen meiner Freunde fragen lassen, ob sie denn mit mir gehen wollen würde. Wohin wusste ich selbst nicht. Aber der Form halber musste das sein, so viel wusste ich. Wollte sie erstaunlicherweise. Also waren wir nicht mehr einzeln, sondern zusammen. Wir fuhren mit den anderen ins nächste Seebad und aßen Eis auf der Promenade. Wir ärgerten uns beim Volleyball darüber, dass wir lieber den Ball halten wollten, als die Hand des anderen. Wir gaben uns einen Kuss auf die Wange im Licht einer Fackel neben einer Tischtennisplatte. Wir lagen eine ganze Nacht mit klopfendem Herzen im unteren Teil eines Doppelstockbettes und haben uns nicht gerührt. Wir saßen bei der Abschlussdisko nebeneinander, die Hände ineinander verklebt, ganz still und hörten Scooter was vom Endless Summer schreien. Ein Mädchen, das vor uns tanzte, trug weiße Handschuhe und einen kleinen Rucksack im Licht einer Diskokugel aus Plastik. Wir saßen da und sagten kein Wort. Weil wir wussten, was noch kommen musste. Also gingen wir irgendwann los.


Als ich im Bus nach Hause saß, weinte ich. Stundenlang. Ich bekam eine 1:1 Betreuung. Neben mir saß immer einer, so lange, wie er das aushalten konnte. Sie wechselten sich stündlich ab. Ich heulte meinen inneren Mond an. Weil Berlin damals von Karl Marx Stadt aus unerreichbar war für einen 13jährigen. Weil Briefe mindestens drei Tage brauchten. Weil ich mir nicht erklären konnte, wo dieser Wille herkam, dieses Mädchen bei mir zu haben. Wie dieses Loch in mir jemals wieder gefüllt werden sollte. Und vor allem womit. Mein Herz hatte den aufrechten Gang gelernt und hatte sich direkt nach den ersten Schritten lang hin auf den Asphalt gepackt. An einer Raststätte kurz vor der Heimat, saß ich auf einem Bordstein und füllte meinen Tränenspeicher auf. Da setzte sich einer der Betreuer neben mich, legte seinen Arm auf meine Schulter. Er sagte: Schreib ihr doch einen Brief. Ich schaute den großen Schornstein an, der hinter dem nächsten grünen Hügel hervorschaute und hatte das Gefühl, dass das eine gute Idee war. Zuhause saß ich dann fünf Minuten nach meiner Ankunft in meinem Zimmer vor einem weißen Blatt Papier. Meine Tasche neben meinem Stuhl. Und schrieb einen Brief. Den ersten in meinem Leben. Ich schrieb schief, auf Papier, in dem man die Holzstücken noch sehen konnte. Ich schrieb, dass ich sie wiedersehen will. Und dass ich sie vermisse. Ich schrieb. Es fühlte sich an, als ob mich jemand verstehen würde. Und ich habe bis heute nicht damit aufgehört, an sie zu schreiben.


Wir liefen den Weg von der Disko zum Strand ein letztes Mal als Kinder. Als wir ankamen, war alles ganz weich. Der Sand. Die Brandung. Das Licht. Ihre Hand. Jemand hatte das Bett für uns gemacht. Wir gingen ein paar Meter nach rechts und setzten uns in den Sand. Ganz eng nebeneinander. Wir redeten ein paar Minuten über Take That und dann küssten wir uns. In meinem Bauch wurde an diesem Abend eine Sonne geboren. Ihr Licht scheint bis heute auf meinen Weg.


 .felix wetzel.

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