top of page
Suche
  • AutorenbildFelix

#63 // Heimat



Zwischen den Gehwegplatten beißt sich das Grün durch den Kitt mit zarten Blättern. Kleine Risse haben sich im Stein gebildet. In grauer Soße hebt sich der Block in den Himmel, aber kommt nicht ran. Bei Regen werden die Platten dunkler. Bei Licht ändert sich nichts. Für die Haustüren braucht man keinen Schlüssel. Die Scheibe wackelt im Holz, wenn sie zufällt. Wenn man abends im Bett liegt und das Fenster offen ist, wird man wieder wach. Es gibt keine Gegensprechanlage. Die Kinder warten nachmittags auf den Bordsteinen mit ihren Schulranzen auf ihre Eltern mit den Wohnungsschlüsseln. Sie malen mit Kreide auf den Boden oder ritzen mit Bleistiften Buchstaben in den Dreck. Wenn es regnet sitzen sie unter der Treppe. Die Ratten gehen dann woanders fressen. In den sechsten Stock im Plattenbau läuft es sich nicht leicht. Die Plastiktüten mit den Einkäufen teilen die Haut zwischen den Fingern. Wenn man nicht schnell genug läuft, geht nach dem vierten Stock mitten auf den Stufen das Licht aus. Die Spione leuchten wie weit entfernte Galaxien, hinter den Türen schlurfen die Hausschuhe auf dem Linoleum.


Gegenüber im Hof zerfällt eine alte Fabrik. Die Wende, keine Arbeit, keine Wände. Wenn der Wind weht fällt auch mal ein Glas aus der Fassung. Die Tauben fliegen dann eine Runde. Im Sommer flattert die Bettwäsche an den Leinen. Sie riecht nach etwas, das nicht echt ist. Fußbälle machen darauf langgezogene Flecken. Im Hof ist Parkverbot. Zwei Männer waschen trotzdem ihr Auto neben der Teppichstange. Es gibt keinen Gulli für ihr schmutziges Wasser. Die Lache breitet sich langsam aus, die Bordsteine sind die Ufer. Der Schaum bleibt noch, als das Wasser längst fort ist. Wenn man sich an die Wäschestange hängt und loslässt, schlägt man sich die Knie auf. An einem Sonntagmorgen entdeckt ein Nachbar Kratzer am Lack. Vom Kotflügel bis zum Heck, beidseitig. Grauer Lack steigert den Wiederverkaufswert. Seine grauen Trainingshosen blähen sich auf vor Wut, vor allem an der Hüfte. Die Kinder sind Schuld. Er würde ihnen gern eine Tracht verpassen. Wenn es seine Kinder wären, würde er das tun, sagt er oft. Sind sie aber durch einen Zufall nicht. Seine Frau schaut aus dem Fenster und trägt Lockenwickler. Sie trägt Kittel. Abends schlägt sie oft mit dem Besenstiel gegen die Decke. Aber stiller wird es deshalb in ihr nicht.


Die Kinder im Hof kennen sich. Die Platte verbündet. Jeder hat schon einmal mit jedem gespielt. In den Ferien ist manchmal keiner da, keine Wahl. Da gibt es sonst nur die Wohnung und die Buden haben niedrige Decken. Die Platte verbindet. Die Spitznamen auf dem Hof verteilen die stärkeren. Die Hosen der schwachen fallen wie die Blätter im Herbst. Die Mädchen kichern, aber wissen nicht, wieso. Sie sagen, bei ihnen dürfte man das nicht. Wer Pech hat ist dick. Wer Glück hat, ist dick und lustig. Glück ist eine Tauschwährung im Hof. Wenn schlechtes Wetter ist, werden die Schutzbleche an die Fahrräder geschraubt. Die Außenseiter haben oft die schönsten Räder, ihre Lenkerstangen glitzern in der Sonne. Sie fahren lange Runden um das Haus, manchmal zu zweit. Sie reden über was, aber sie gehören nirgendwo hin. Vorn sitzen die Eltern auf dem Balkon und schauen auf sie hinab. Hinten schauen die anderen. Die Rosenbeete töten die Gummibälle der Kinder. Die Eltern kaufen dann einen neuen für das Opferkind, wenn sie noch Arbeit haben. Wenn nicht, schieben sie die Schuld auf jemand anderen. Jeder schießt irgendwann in die Dornen. Nur ein paar bleiben immer oben in ihrem Zimmer. Wer abends zuerst hoch muss, wird kein Anführer.


Wenn einer auszieht, schauen immer alle, wer nachkommt. Erst sind es Familien. Mit drei Zimmern und Plänen. Später immer wieder Menschen, die mit Pistolen zwischen Tür und Rahmen hindurch fuchteln. Mit Rosenpapageien auf den Schultern. Mit Rollstühlen und Stützstrümpfen. Mit Ringen unter den Augen. Die nicht die Tür öffnen an Fasching. Manche sterben, bevor man sie am Müllplatz getroffen hat. Manche rufen abends die Bullen, ohne vorher was runter zu rufen. Mopeds werden in den Hauseingängen geputzt. Ein Trabant wird lila angesprüht, im Handschuhfach liegt eine Gaser. An den Wochenenden knallen ab 21 Uhr die Fenster zu. Im Papierkorb mit dem Mantel aus Stein brennen Zigaretten runter. Die Eltern sagen den kleinen, dass sie nicht bei den großen Kindern stehen sollen. Im Rauch entsteht der Nebel in den Köpfen. Ein Vater nennt seine Tochter vor allen anderen Bombe, weil sie mal in den Sandkassen geschissen hat. An Wochentagen bleiben viele zuhause. Kissen werden auf Fensterbretter gelegt. Die Pelargonien werden gegossen und tropfen auf heiße Bordsteine. Die Haare werden im vierten Stock grau, auf dem Dach wellt sich das Blech, unten auf dem Hof bilden sich Glatzen. In der Sommerhitze wird der Kitt in der Fassade so heiß, dass man die Steine herauslösen kann. Sie fliegen in die Scheiben der alten Fabrik. Risse entstehen. Im Glas und sonst.


Wer kann sucht sich Freunde in anderen Höfen. Sitzt auf anderen Bänken, rotzt auf den Weg und hört die gleichen Sprüche. Am Ende landen alle wieder hinter der Platte. Das Gemurmel auf dem Hof an sonnigen Samstagen wird leiser. Das Geschrei abends im sechsten lauter. Mit dem Hund gehen, aufs Amt, zur Poliklinik, auf die Couch, das sind die Tage. Wenn man bei Regen aus dem Fünften ganz nah an der Hauswand einen langen Faden nach unten spuckt und einen Kopf trifft, fällt das nicht auf. In grauen Locken glitzert die Rotze auf dem Scheitel vor dem Fernseher. Der Dackel muss raus und bellt jeden Abend im Treppenhaus. Das Echo hört man morgens noch. Die Freunde von früher bekommen Muskeln hinter der Stirn. Das Lachen klingt nach Pitbulls. Es geht jetzt gegen die, die noch schwächer sind. Oder anders. Manche kaufen sich Handschuhe mit Quarz in den Knöcheln. Andere verschwinden für Tage im Wald und sind danach nicht mehr wie früher. Einen fanden sie nackt in der Scheune. Ein guter Junge war das. Ein erster Kuss bei den Mülltonnen wirkt ein Leben lang. Herzen aus Beton brechen nicht leicht. Aber es kommt auch schwer was durch.


Als die ersten mit der Schule fertig sind, fängt sie für die anderen erst richtig an. Plötzlich führen Wege in verschiedene Richtungen um den Block. Die einen gehen in die Lehre, die anderen brechen ein, weil sie sonst nicht wissen, wie sie die Leere füllen sollen. Die U-Haft ist gegenüber auf dem nächsten Berg. Sie haben vor die Wand mit dem Stacheldraht noch einen Zaun mit Stacheldraht gebaut. Niemand kommt raus, manche wollen sogar rein. Weil alles seine Ordnung hat, sagen die, die wieder raus ins Chaos müssen. Wenn man mit den Insassen reden will, muss man auf den Schulhof eines Gymnasiums. In der Hofpause auf einen Schnack mit den Mutmaßlichen. Bis runter an den See reichen die Rufe nicht. Die Eltern sind keine Vorbilder. Die meisten wissen seit der Wende nicht wohin. Wenn sich viel verändert, findet man sich selbst schwer. Um die Platte wird es still, das Leben ist weitergezogen und hat sie alle dort gelassen. Ein gebrochenes Versprechen in Beton gegossen. Im gelbroten Licht der Straßenlaterne reißen Gräben, die die Stadt nicht zuschütten kommt. Der gelbe Zaun der Schule gegenüber rostet. Die Kinder sind aus ihm raus gewachsen. Die Turnhalle der Schule abgerissen. Nicht genügend Kinder. Gegenüber der Schule stürzen Träume aus dem fünften. Niemand hilft einem, sagen die Leute bei einer Kippe. Aber es geht auch niemand los, Hilfe holen. Wenn der Umzugswagen endlich kommt, schicken die Nachbarn die Kinder zu den Großeltern. Die sollen nicht im Ausweg stehen. Als die Wohnungsbesichtigungen Ende der 80er waren, bevor der Block massiv war, da war alles weich. Das Erdreich türmte sich, Steine lagen auf losen Stapeln, Baggerfahrer setzen sich ihre gelben Helme auf. Die Hügel sind jetzt flach. Gras ist über die Erde gewachsen. Aber kein Samen war darin.


 felix. wetzel.


(inspiriert von trettmanns “grauer beton”)

42 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
Post: Blog2_Post
bottom of page