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  • AutorenbildFelix

#6 // Lux



Als ich klein war, vielleicht gerade vier, lag ich nachts so oft wach, ich hab die Nächte alle persönlich kennengelernt. Aus den Schatten an der Decke fielen immer große Steine in mich hinein, sie entstanden einfach aus dem Nichts und legten sich schwer auf mein Herz. Es gab wenig, was dagegen half, weiteratmen, aushalten, dagegendrücken. Wir mussten uns arrangieren, die Nacht und ich. Steine hatte sie viele, ich hatte dagegen zwei Arme. Ich war ja sowieso immer da, das war nicht zu ändern, und sie ließ sich oft aus Protest gegen mich in die Breite fließen, sodass kaum noch etwas übrig blieb vom Licht. Ich hab nie versucht, gegen sie zu kämpfen, das hätte doch nichts genutzt. Gegen etwas zu kämpfen, das jeden Tag wieder kommt, macht nur hässliche Narben unter den Augen. Schon damals hab ich geahnt, dass mein Gegner zu groß war. Heute kommt die Nacht schon oft am Tag.

Als ich Student war wohnte ich eine Zeit lang am Autobahnzubringer, der gleichzeitig auch der schnellste Weg zur Unfallklinik war. Den ganzen Tag brachten sie zerfledderte Menschen mit mehr als achtzig Kilometern pro Stunde von rechts nach links. Die Straße war hell beleuchtet, so wie sie in den Städten das Licht machen, wenn sie keinen stören wollen. So orange, als würde das Licht die ganze Nacht um Verzeihung bitten. Weil ich keine Vorhänge mag, lag mein Zimmer jede Nacht in diesem Zwischenlicht. Und wenn die Krankenwagen fuhren, dann kreiselte etwas Blau ins Orange hinein und machte schöne Muster auf meiner Zimmerdecke, die ich irgendwann auswendig in den Vorlesungen nachmalen konnte. Es war eine Zeit, in der ich eigentlich immer allein schlief, mich niemand nachts anleuchtete von der anderen Seite. Ich staunte über die Vögel, die mitten in der Nacht vor meinem Fenster sangen. Bis ich einmal einen Artikel las, dass die armen Tiere völlig durcheinander waren von all dem Licht. Und dass uns die Dunkelheit abhanden gekommen wäre, die Sterne könnten ein Lied davon singen. Da habe ich nur leise gelacht.


Kurz bevor du dann endgültig gegangen bist, hast du zu mir gesagt: „In dir ist eine Dunkelheit und eine Verzweiflung. Damit komme ich nicht klar.“ Du hast mich niemals gefragt, wie ich damit klarkomme. Als wäre mein Schatten im Blick ein persönlicher Angriff auf dich und deinen Traum von einem schönen Leben. Mit wilden Armbewegungen hast du oft versucht, das Dunkle wegzuwedeln. Du hattest dabei etwas Verrücktes im Blick. Als könnte man ein Gebirge mit den nackten Füßen niedertrampeln. Und mir blieb nichts anderes übrig, als mich anzustrengen. Als könnte man Hoffnung dadurch erzeugen, dass man hin und wieder ABBA hört. Ich hab Glühbirnen gekauft, Lampen dazu und sie überall aufgestellt. Aber wenn du nicht hingesehen hast, hab ich mich in den Schatten gestellt und mit meinen Händen Fledermäuse über die Wand fliegen lassen. „Vielleicht können wir irgendwann Freunde sein.“, hast du gesagt und bist zurück ins Licht gegangen. Und ich schloss meine Augen und ging zurück zu meinen dunklen Freunden.


Heute habe ich Vorhänge und hab mich mit der Dunkelheit angefreundet. Lange Zeit habe ich versucht, mich mit einem richtigen Leben abzulenken, mit Streichholzfreunden, mit Strohfeuerblondinen, mit Spiritusliebe, mit Blendgranatenarbeit. Aber es ist wie wenn meine Mutter früher das Licht im Flur ausgemacht hat, weil sie dachte, ich würde schlafen: Hinter dem Licht wartet nur der nächste Schatten. Die anderen sind oft Lichtgestalten. Sie sind zufrieden mit den paar Funken, die sie haben. Ich hab manchmal das Gefühl, dass mir nicht mal ein Flächenbrand reicht, um all die Schatten abzufackeln. Aber so ist es eben. Manchmal schreibst du mir noch und sagst, dass es dir leid tut. Ich denke dann immer, dass du in meinem Schatten irgendwann ersoffen wärst. Und dass ich mich entschuldigen müsste. Stattdessen kaufe ich mir regelmäßig Kerzen und suche in den Zitterschatten an der Wand nach deinen Umrissen. Einmal, das weiß ich noch, hab ich zu dir gesagt: „Du musst mir die Angst nehmen.“ Da hast du nur komisch geguckt und es für einen plumpen Versuch gehalten, dich an mich zu binden. Heute weiß ich, dass du das gar nicht gekonnt hast. Wie soll das auch gehen, dunkle Seiten haben es so an sich, dass sie sich nie ins Licht drehen. Und wenn ich als junger Mann immer dachte, dass wir Menschen uns gleichen, so weiß ich jetzt, dass meine Schatten länger sind, als andere.


Meine Mutter kennt sie auch, die Dunkelheit. Aber sie redet nicht darüber. Das Reden hab ich sowieso auch nicht geerbt. Mein Vater kannte sie auch, die Dunkelheit, er ist sogar mit ihr eins geworden, mein persönlicher Darth Vader. Und wenn ich mich im Spiegel anschaue, dann sagt mir etwas, dass ich wohl niemals aus den Schatten meiner Eltern treten werde. Einmal war ich im Urlaub, da schlief ich mit Freunden in einem alten Bauernhof, mitten im Wald. Nachts wachte ich auf und sah die Hand vor Augen nicht, ich war nicht mal sicher, ob ich überhaupt wach war. So sehr ich auch wedelte, ich bekam den Schatten nicht von den Augen. Und nachdem sich meine Angst unter dem Bett verkrochen hatte, wurde ich ganz ruhig. Es war plötzlich egal, ob ich die Augen offen oder geschlossen hatte, ich war ganz in meinem Element.

Irgendwann bin ich auch mal zum Arzt gegangen. Das war noch in der Zeit, als ich dachte, dass es Lösungen auf Rezept gäbe. Der hörte mir erst zu, nickte viel und verschrieb mir dann Tabletten gegen die Dunkelheit, in einer gelben Schachtel. Dazu riet er mir noch, mich in meinem Alter noch nicht freiwillig für diesen Abgrund zu entscheiden. Als wäre die Schwere auf den Schultern eine Frage der Steine, die man in den Hosentaschen trägt. Lange Zeit hab ich die Packung in meinem Zimmer aufbewahrt, ich wusste auch im Dunkeln, in welche Richtung ich schauen musste, um sie anstarren zu können. Ich frage mich immer, wie sie wohl gewirkt hätten. Und ob sie wohl aus Licht gemacht sind. Noch lange danach musste ich an seine Worte denken, die Menschen ahnen manchmal gar nicht, was ihre Worte bei anderen auslösen können. So oft hab ich gedacht, dass ich mich selbst entschieden hätte für die Dämmerung. Überlegte nächtelang, warum und wann das passiert sein könnte. Und versuchte mich abzulenken mit Strobo, Kerzen und Nordlichtern. Irgendwann dämmerte es mir, dass du recht hattest mit deiner Feststellung. Wenn ich in diesen Tagen manchmal das Gefühl habe, dass ich zu schwach bin für diese Welt, weil bei jedem Schritt mein Schatten an meinen Fersen zieht, wenn Menschen mich mit ihrem Neonlicht blenden, wenn sie mich mit ihren Sonnenstürmen von den Füßen fegen, dann denk ich zurück an die gelbe Schachtel und verkrieche mich darin. 

Ich habe mir jetzt stattdessen eine Taschenlampe gekauft, die nehme ich mit unter die Bettdecke. Seit du weg bist, schlafe ich meistens wieder allein. Und wenn ich merke, dass es mir zu dunkel ist, dann leuchte ich mir kurz ins Gesicht.


.felix wetzel.

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