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#57 // Herz-Rhythmus-Störung



Ihr Frühstücksmüsli mit Heidelbeeren Fotografierer, ihr akkuraten und sozialstrategischen Hochzeitsvorbereiter und absichtliche Schatzsager, ihr das Leben ist nur eine Frage der Einstellung Behaupter, ich wünschte ich hätte eure Gelassenheit. Die euch abends bettet auf atmungsaktiver Nachtruhe mit Federn im Kern, die euch bewusst macht, wie gut ihr es getroffen habt oder wie gut es ist, dass ihr euch getroffen habt. Die euch morgens nach dem Aufstehen den Sonnengruß auf einer Matte aus glutenfreier Zahnpasta mit einem Freilandlächeln machen lässt. Die Ruhe, die ihr euch hart verdient immer dienstags und donnerstags im Yolokurs, bei dem ihr eurer Blut gegen Schweiß und Tränen tauscht, Bizeps auf und Zweifel abbaut. Hätte ich eure Gelassenheit, ich hätte den Mann, der in meinem Kopf die Störgeräusche erfunden hat, längst aus der Stadt gejagt mit einem Schulterzucken.

Aber mein Herz schlägt bis zum Hals, wenn ich das Video einer nassen Eule anschaue oder die Nachrichten wegschalte, weil ich es nicht mehr ertrage wegzuschauen.


Ihr strategischen Menschen-Durchdenker, ihr Stempel im Weiterbildungsheft Sammler, ihr Feierabendverächter und Gefühlsignoranten. Ihr, die ihr Stärke über das Schwache legt, bis es keine Luft mehr bekommt unter eurem Leidensdruck, ich wünschte ich hätte eure Zielstrebigkeit. Wenn ich die hätte, ich hätte längst aus Leichen eine Treppe an der Fassade des Soho-Hauses gebaut. Ich hätte keine Kraft vergeudet, das Leben lebend zu verstehen, ich hätte es auf den Teufel komm rein von hinten genommen und wäre danach auf einem Personalgespräch durchs Ziel geritten. Ich hätte mich auf das Wesentliche konzentriert und hätte niemals das Ziel aus den Augen verloren. Ich läge jetzt oben auf der Dachterrasse im Chlor mit einem Gintonic im Mundwinkel und würde mit euch zusammen nach unten hin die letzten kleinen Flammen austreten. Hätte ich eure Zielstrebigkeit, die Frage wäre endlich nicht mehr ob, sondern nur wie viel Mojo ich von meinem Festgeldkonto abheben muss.

Aber mein Herz schlägt bis zum Hals, wenn ich dich davon überzeugen muss, mir zuzuhören oder die Tipps derer zu befolgen, die auf den Schmerzen der anderen hoch gekommen sind.


Ihr Fitnesstudiobilder mit Proteintipps Kommentierer, ihr Bodychanger und Weltsolasser, ihr mageren Herzen im öligen Muskelkleid. Ihr geschundenen und diskriminierten Hashtagopfer. Ihr Instagramhelden in Stretchhosen, ihr Essensverächter mit Avocadokern in der Brust, ihr Challengeakzeptierer und Zielesetzer, ihr Arsch vor dem Spiegel Fotografierer, die ihr euer eines Bein auf Zehenspitzen stellt, damit eure Backen größer aussehen. Ich wünschte ich hätte eure Zuversicht. Dass ihr die anderen überzeugen könnt von eurem optimierten Stoffwechsel. Dass ihr den anderen zeigt, wie stark euer Wille ist, obwohl euer Körper nur ein labbriges Burgerbrötchen unter dem festgeschraubten Plastiktisch der Geschichte ist. Dass ihr euch selbst besiegen und auch noch Stolz darauf sein könnt. Dass ihr irgendwann für euer Fitnesscouple Selfie so viele Likes bekommt, dass ihr nie wieder Sport treiben müsst. Dass ihr euch irgendwann mal ein Ziel setzt, das ihr erreichen könnt, ohne Algenshakereste zwischen den Zähnen und ein leeres Gefühl im Bauch. Hätte ich eure Zuversicht, ich wäre längst jemand anderes und hätte mich auf dem Stepper vergessen.

Aber mein Herz schlägt bis zum Hals, wenn ich an die Leere denke, die hinter meinen Bauchmuskeln ist und wie heftig Rotwein in leeren weißen Proteinpulverdosen schäumt.


Ihr Fortpflanzungsfetischisten, ihr Profilbilder zu zweit in einer Blumenwiese Einsteller, ihr Kinderwagenneukaufer, ihr Durchfallgeschichtenaustauscher und  ihr Erziehungsratgeberfehler. Ihr Spielplatzrumsteher und Schaukeltechnikbesserwisser. Ich wünschte ich hätte eure Selbstsicherheit. Wie ihr anderen sagt, was bei euch richtig war. Wir ihr anderen sagt, dass sie nicht ganz richtig sind. Wie ihr eure Liebe mit Hashtags verseht und mit erfundenen Alltagsgeschichten an Gewinnspielen für Popelsauger teilnehmt. Wie ihr bei Kitaversammlungen die Macht ergreift und dabei an das Gute in der Schulspeisung appelliert. Wie ihr tausend Rundmails wegen der Sommerfestorga und dem Erzieherinnenbestechungsgeschenk schreibt aber nicht für das krebskranke Kind von Freunden spendet. Wie ihr Blogs mit Lattefingern eintippt über Mutterkuchenrezepte und euch Muttervonzweien auf die Hüfte tätowieren lasst, kurz bevor ihr Muttervondreien werdet. Hätte ich eure Selbstsicherheit, ich hätte längst mit zehn Frauen Kinder gemacht und ihnen statt Namen Laufnummern gegeben. Aber mein Herz schlägt bis zum Hals, wenn ich mir vorstelle, dass meiner kleinen Tochter ein falsches Wort von mir eine Chance nimmt und wie viel Strom so ein Popelsauger verbraucht.


Wir Menschen, die wir uns an unseren Frontkameras im Leben halten, die wir uns mit dem zehnten perfekten Selfie belügen, anstatt abends spontan am Badhairday mit Rotwein vorbeizukommen. Die wir jeden Tag den anderen beweisen wollen, dass wir anders sind und dabei ständig auf der Suche bleiben, nach jemandem, der so ist wie wir. Wie wir uns überlegen fühlen, wenn wir da tanzen, wo andere nicht reinkommen. Wir wie uns anders fühlen, nur weil wir Schwarz tragen. Wie wir unsere Timelines säubern, als wären es die Wohnzimmerfenster. Wie wir abends die Videos vom Tag in unsere History laden und die Augen zählen. Wie wir die Liebe neu erfinden wollen, weil wir die alte nicht gepackt haben. Ich wünschte wir hätten mehr Zeit. Zeit zu zweifeln, auf dass wir Notwendigkeit nicht mehr mit Angst verwechseln. Zeit, sich ein Leben nicht über den eigenen Kopf zu bauen und sich dann über die verspannten Schultern zu wundern. Mehr Zeit dazu, mit ausgebrannten Augen im eigenen Blut zu liegen und das Eisen zu schmecken. Wenn ich eure Leben hätte, ich würde sie nutzen.


Aber mein Herz schlägt bis zum Hals.


.felix wetzel.

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