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#53 // Der dünne Faden



Die Frau, die durch die automatische Türe gehumpelt kommt, jammert. So laut, dass selbst die arabische Großfamilie kurz still ist. Ihr Gesicht ist geschwollen, sie sieht aus, als hätte sie gegen einen Truck geboxt. „Hilfe bitte“ sagt sie laut und leise. Eine Schwester kommt und stützt sie ab. Aus ihrem rechten Hosenbein tropft es rot auf die grauen Fliesen. Ungünstige Farbe, denk ich. In meinem linken Arm beginnt es zu kribbeln. Ich drehe mich zum Fernseher an der Wand. Es läuft Werbung für eine Aktienbewertungswebsite. Aus den Augenwinkeln sehe ich die Humpelnde hinfallen. Der DAX im Spot steigt. Jemand wird nachher die Fliesen putzen müssen. Ich will hier weg. Aber ich habe hier noch etwas zu erledigen.


Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hat die Sonne geschienen. Das sehe ich vom Bett aus immer schon an der Farbe meiner Vorhänge. Die sehen dann wie frischer Sand aus. Wenn grauer Himmel ist, sehen sie wie Sand aus, in den jemand hinein gepinkelt hat. Ich bin aufgestanden, habe den frischen Sand zur Seite geschoben und auf die Straße geschaut. Alles war da. Die weiße Fassade gegenüber tat wie immer so, als wäre hinter ihr nichts los. Das Badfenster der Lady im zweiten war natürlich angekippt. Ein kleines dreckiges Auto fuhr schief in die einzige Lücke ein. Auf dem Gehweg stand das Postrad. Seine Besitzerin füllte die Briefkästen mit Tatsachen. Und über allem hing der Himmel blau. Wenn ich den sehen will, muss ich ganz nach vorn an mein Fenster gehen. Aber ich kann mich darauf verlassen, dass er dann auch immer da ist.


Auf dem Fernseher an der Wand war die Werbung inzwischen vorbei. Kurznachrichten liefen durch. Türkei beleidigt. Trump beleidigt. Leverkusen ohne Trainer. Babyleiche im Müll. In der Reihenfolge. Eine sehr große dicke Frau schiebt sich in mein Blickfeld. Sie rollt quasi durch mein Fenster zur Welt hinein und bleibt direkt unter dem Fernseher sitzen. Ihr Atem geht schwer. Ihre Haare sind verschwitzt. Ich stelle in Gedanken meine Flasche Wasser auf ihr Doppelkinn und balanciere sie so aus, dass sie allein darauf stehen bleibt. Ich versuche mich auf die Babyleiche zu konzentrieren, aber die Frau guckt mich an. Glaube ich. Genau kann ich es nicht sehen. Ihre Augen sitzen in winzigen Löchern. Sie sehen aus wie in Fleischbrät gefallen. Der Fernseher sagt, dass die Obduktion des männlichen Säuglings hoffentlich Klarheit über die Todesursache bringen wird. Was halt in der Notaufnahme so läuft. Mir läuft etwas aus dem Ruder.


Auf dem Weg zum Bäcker komme ich am Wochenende immer an einer seltsamen Wohnung vorbei. Die liegt im Erdgeschoss, hat zwei riesige Fenster zur Straße und immer sind die Gardinen zu. Wirkt geheim. Nur einmal, da stand die Tür offen. Da konnte ich drinnen einen riesigen Tisch sehen. In der Mitte des Raumes steht der. Schwarz. Es passen bestimmt 10 Stühle ran. Und riesige Kerzenleuchter stehen darauf. An den Wänden hängen Fotos wie aus dem Schaufenster von Fotostudios. Ganz normale Menschen sind darauf, die versuchen, wie besondere Menschen auszusehen. Im Internet steht, dass die Wohnung an Urlauber vermietet wird. Und tatsächlich sitzen oft rauchende Urlauber davor, die alle von den Haaren her so aussehen, als würden sie in den RTL II Nachrichten vorkommen wollen. Meistens trinken sie Sekt und abends schallen ihre Stimmen durch die Straße. Ich geh da gern vorbei, da ist immer was los. Ich hoffe es zieht niemals ein Bio-Laden da rein. Dann würde mir was fehlen auf dem Weg zum Bäcker. Beim Bäcker wissen sie dann nämlich immer schon, was ich möchte. Ein schönes Gefühl ist das.


Neben mir beginnt eine Frau zu telefonieren. Sie kam vorhin mit ihrer Mutter, erfahre ich. Sie wurde jetzt aber raus geschickt. Ihre Mutter hätte länger nichts getrunken. Jaja, das wäre übel. Und wenn die das jetzt versauen, dann verklagt sie den Scheißladen. Scheißladen kommt dann noch drei Mal vor in den nächsten zwei Sätzen. Während eine Schwester das Blut vom Boden wischt und die Fließen wieder grau werden, sagt die Frau noch mehrmals laut Scheißladen. Dann wünscht sie dem Gesprächspartner noch einen schönen Sonntag mit der Kleinen. Als sie auflegt stelle ich fest, dass ich sie anstarre. Sie bemerkt das und guckt mich zurück an. Sie lächelt gequält und steht auf. Auf der Sitzbank bleibt ihr Brillenetui liegen. Ich überlege, ob ich ihr nachrufe. Aber mir ist schlecht. Irgendwo hinter der Erstaufnahme schreit eine Frau. Ihre Stimme erinnert mich an einen Film, den ich mal gesehen habe. Ich würde jetzt gern einen Film sehen. Ich würde jetzt gern einen Film sehen, und ihn mittendrin ausschalten. Die Frau kommt wieder mit einem Schokoriegel in der Hand. Sie lächelt immer noch entschuldigend. Vielleicht sah ihr Gesicht auch einfach nur so aus. Ich verzeihe ihr, ohne es mir anmerken zu lassen.


Als ich den Anruf bekomme, sitze ich gerade auf der Couch und freue mich über den Blick. Ich habe nämlich mein Zimmer umgeräumt. Die letzte mögliche Kombination. Ich hatte schon alles ausprobiert. Aber so wie es jetzt ist, gefällt es mir richtig gut. Ich mag das, Dinge so hinzuräumen, wie ich sie haben mag. Es ist die einfachste Art, etwas um sich herum zu verändern. Aber kontrolliert. Ich denke ein paar Tage darüber nach, dann probiere ich es aus. Und wenn es doof ist, stelle ich es zurück. Oder anders hin. So wie die Couch jetzt steht, reicht leider das Ladekabel nicht mehr bis zur Lehne. Also muss ich aufstehen, als es klingelt. Ich steige über eine leere Gin-Flasche, die umgefallen ist und mit dem Teppich eine famose Kombination ergibt. Ich bin kein Säufer, wer ist das schon. Aber Alkohol-Flaschen lass ich gern schon mal länger stehen. Ich mag das Gefühl, dass ich etwas eskalieren lassen könnte. Als ich auflege, weiß ich nicht mehr, wo das Auto geparkt ist. Aber ich muss es schnell finden. Während ich unten vor dem Haus orientierungslos nach rechts und links schaue, öffnet sich oben im dritten Stock gegenüber ein Fenster. Die putzende Frau. Jeden Tag zwischen halb zehn und zehn klopft sie ihren Wedel aus. Sie hat einen Kittel an und weiße Locken. Immer. Sie klopft den Wedel auf das Fensterbrett und putzt noch einmal schnell darüber. Ich muss ihr kurz dabei zuschauen, es fühlt sich irgendwie gut an. Irgendwo am Ende der Straße reißt ein dünner Faden. Das Geräusch kenne ich gut.  


Ein Vater mit seinen zwei Kindern ist neu angekommen. Kinder an solchen Orten sind immer sehr authentisch, wie man heute so sagt. Wenn sie selbst krank sind, leiden sie. So, dass jeder es sehen muss. Wenn sie nur mit sind, langweilen sie sich. Und das sieht dann auch jeder. Die beiden Kids des Vaters liegen bestimmt acht Jahre auseinander. Der große humpelt in Badelatschen, er ist etwa 12 und so bleich wie der Hals eines Kugelstoßers nach dem dritten Durchgang. Die kleine ist höchstens vier. Und sie hat Wut. Auf den Vater. Auf den Bruder. Auf den Raum mit den leidenden Menschen. Und während die von Stalin getöteten polnischen Offiziere im Close gezeigt werden, reißt das kleine Mädchen brüllend eine Tüte Nüsse auf. Im hohen Bogen fliegen die kleinen braunen Kügelchen auf den Boden und verteilen sich in alle Richtungen. Zeitgleich beginnt die vietnamesische Mutter, die kein Wort deutsch spricht, wie sie der Krankenschwester auf Englisch mitgeteilt hat, auf ihrem Telefon Candy Crush zu spielen.  Mit Ton an. Das Leben ist zum Piepen, denke ich. Und ziehe mir einen Tee, der leider rot ist.


Auf dem Weg ins Krankenhaus versuche ich nicht schnell zu fahren. Und erwische mich doch dabei, wie ich die Tachonadel durchbiege. Ich weiß gar nicht, warum ich schnell fahre. Es ist alles schon passiert. Ich kann sowieso nur noch die Scherben aufsammeln. Es ist so ein Moment, in dem das Leben sich verrückt. Nur um ein paar Zentimeter zur Seite. Während man selbst stehen bleibt. Jede Eckkneipe sieht falsch aus. Jeder betrunkene Fußgänger führt ein beneidenswertes Leben. Jeder Sonnenstrahl ist ein ironisches Statement über die Unvereinbarkeit der Welt. Es ist als ob einer beim Durchpausen mit dem obersten Blatt ein Stück verrutscht ist. Ich lese ja gern Artikel über Physiker, die an Paralleluniversen glauben und versuchen, sie zu beweisen. Darin stehen so tolle Sätze wie „Alles, was passieren kann, passiert auch.“ Und ich denke immer, dass wir nicht vorbereitet sind auf solche Erkenntnisse. Wir sind auf einen Scheiß vorbereitet.


Ich ertappe mich dabei, wie ich den Kopf nervös nach rechts drehe. Alle paar Sekunden. Als würde ich über eine Straße gehen wollen, auf der immer Autos kommen. Der Vater, der Sohn und das kleine Mädchen haben fast alle Nüsse wieder aufgesammelt. Und während der Junge zum Röntgen in A3 darf, brüllt seine Schwester, dass sie jetzt satt ist. Die vietnamesische Mutter lächelt, obwohl sie das eigentlich nicht verstanden haben dürfte. Nur neben meinem Fuß liegt noch ein kleiner brauner Ball. Ich überlege, ob ich ihn aufhebe und esse. Die arabische Großfamilie grätscht mir dazwischen. Die Tochter kommt mit Gips aus der Milchglastür, hinter der immer noch die Frau schreit. Und der Clan setzt sich lärmend in Bewegung. Einer der Jungs kickt aus Versehen die Nuss von meinem Fuß weg. Klimpernd verschwindet sie unter der Sitzbank gegenüber. Und während ich noch darüber nachdenke, warum die Fliesen grau sind, sagt eine Stimme durch die Lautsprecher an der Decke: „Der Angehörige von Frau Schulze, bitte in die A6.“ Und noch einmal fast gesungen: „Der Angehööörige von Frau Schulze bitte in die Aaaah Se-hechs.“


Ich verstehe erst zwei Sekunden später, dass ich gemeint bin. Ich stehe auf, gehe am kleinen Mädchen vorbei. Schmeiße meinen Teebecher in den Eimer. Und frage mich nichts. Außer wie der Boden schon wieder so sauber sein kann. Und ob man das Blut nicht hätte ein paar Tage kleben lassen sollen. Zur Erinnerung daran. Dass er reißen wird. Irgendwann.

 .felix wetzel.

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