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#44 // Neuanfang my ass



Irgendwo zwischen den ganzen Kisten liegt mein Leben in einem Schuhkarton. Immer wenn ich das Ding sehe, weiß ich, dass irgendwas schief gegangen ist. Und dann kommt auch immer was Neues rein in den Karton. Postkarten von Orten, die mal weit weg waren, zerknickte Fotos mit Menschen, die mal wichtig waren. Erkaltete Spuren, die bis hierher führen, unter meinen Tisch. Nach Parfüm riechende Briefe fallen aus der schlappen Pappe, die mit „in Liebe deine“ unterschrieben sind. Ich lach mich tot. Beides Lügen. Wobei das „deine“ die größere ist. Nichts und niemand gehört einem. Das merkst du aber erst, wenn gegangen wird. Dann wird auf einmal darüber verhandelt, was wem gehört. Wer was war. Wie groß die Opfer hier und wie klein der Wille da. Und Liebe gehört sowieso nie jemandem. Die behält meist einer für sich, als Trophäe und oder Beweisstück vor dem inneren Gericht. Und wenn, dann gehört sie dem, der bleibt. Denn wer bleibt, wollte ja nie gehen und lebt weiter im Recht. Manchmal geht sie auch einfach, ohne zu sagen, wohin. Gehen war mal nur eine Art der Fortbewegung. Jetzt ist Gehen eine Art schmerzhafte Weiterbewegung. Eine schwere Geburt, ohne den engen Tunnel aber mit dem Licht am Ende. Vorwärts geht es im besten Falle, mit leichtem Zug über die Schulter. Da muss man aufpassen. Da ist man schnell wieder dort, wo man angefangen hat: im Karton der Liebe von jemandem, dessen Gesicht im Licht ausbleicht.


Ich bin Weltmeister im Anfangen. Marathonmannmaschine, die 40 Kilometer und irgendwas lauf ich locker auf dem Zahnfleisch. Ich kenne die Dinge besser von vorn, als ich sie von hinten erkennen würde. Das Ende von etwas hab ich noch nie erreicht. Ich hab keine Ahnung, wie sich das anfühlt, dieses Ankommen, durchs Ziel laufen, sich freuen, auf die Tribüne winken und sich nach einer rauschenden Nacht ein neues Ziel setzen. Es muss ein tolles Gefühl sein, reinigend, ich stelle es mir manchmal abends vor, wenn das Scheitern Haufen in meinem Zimmer bildet. Die Weggabelung, die den Abhang runter führt, ins Tal mit den Kakteen am Hang und den Krokos im Fluss, die kenn ich aber ganz gut. Als Weltmeister rollt man da öfter runter. Weltmeister. Ein Meister im Welten wechseln bin ich. Statt Pokalen stell ich mir Gedichte ins Bücherregal, die ich selbst schreibe. Als Siegerkränze hänge ich mir Geschichten unter die Augen, die ich selbst erlebe. Das Preisgeld für meinen ersten Platz zahle ich mir selbst aus. Der erste Platz, der mich für immer aushält, der muss erst noch gefunden werden. Einmal eine Ziellinie sein, nicht nur ein Gedankenstrich.


Die Straße unten ist nicht neu, sie ist nach wie vor zu klein, als dass zwei nebeneinander passen würden. Ich hätte es wissen müssen. Auch das Haus gegenüber ist nicht anders, seine Fassade ist nach wie vor mein Himmel. Ich hätte es früher erkennen müssen. Die Autos haben nach wie vor die gleichen Farben, keine Ahnung, wer damit richtig fährt. Ich weiß bis heute nur, dass der dicke Kombi einem Mann mit Dackel gehört. Nach wie vor dir. Auch wann die Sonne über die Dächer kommt weiß ich, dann muss ich die Vorhänge zuziehen. Die Dinger werden mir ewig nachhängen. Wann das Café an der Ecke morgens öffnet, weiß ich, ich frage mich wer 6 Uhr 30 Bockwurst isst und ob das zufrieden macht. Ich bin jedenfalls satt von der Anfangerei. Ich fange ja auch nicht den Ort neu an. Das wär ja leicht. Sondern mich. Wenn jemand geht, dann nimmt er einen mit. Und lässt etwas von sich zurück. Du schaust in den Spiegel und ein paar Dinge sind nicht mehr da, wo sie vorher waren. Aus wir wird wieder ich und du. Alles durcheinander. Ein Tetris, das auf die Seite gefallen ist und bei dem seit Minuten kein Vierer kommt. Nach wie vor uns. Die Vorhänge sind hier nur, weil die Nachbarn kein Geld in den Hut werfen wollten, wenn du dich abends ausgezogen hast. Die alten Konzertkarten liegen nur auf deinem Stapel, weil ich dich damals dazu überredet habe. So gibt man und nimmt man sich das Leben. Neu anfangen heißt, das nicht alles beim Alten bleiben kann. Weil nicht mehr alles da ist. Es fehlen Möbelstücke, es fehlen Überweisungen, es fehlt Atmen in der Nacht. Es ist ein Puzzle, bei dem die Hälfte der Teile unter den Tisch fällt, und von dort bis ins Erdgeschoss, dann in die Kanalisation und von dort non stop bis zum Erdkern, da fällt alles hin, was wir nicht mehr auffangen können. Schwerkraft ist etwas, das zuerst den Kern erschüttert.


Das mit den Blumen war nicht meins, die stell ich jetzt trotzdem im Sommer immer auf die Box, bis die Pollen mit dem Beat verwehen. Oder das mit den Kerzen mach ich auch noch nicht ewig, die machen so schön stilles Licht, wenn man eigentlich keines haben will aber vorsichtshalber eins anlassen möchte. Oder die Vorhänge, was hab ich die gehasst. Und jetzt versteck ich mich dahinter, weil draußen der Sommer was anderes will, als ich gerade kann. Was am Ende bleibt von einem Menschen, sind Gewohnheiten, die man nicht gehen lassen will. Die man zu sich hinzufügt, weil sonst alles umsonst gewesen ist. Lebendige Denkmäler, die sich dem Leben anpassen, um nicht aufzufallen. Was allerdings auffällt, sind die Fransen am Herzfleisch. Sind die blutleeren Narben unter den Armen. Sind die schiefen Knochen im Zentrum. Allzulange hält das nicht mehr, das sieht man, wenn der Wind durch pfeift und sich alles zu der Seite neigt, zu der sie alle gehen. Diese Idioten, die nicht bleiben wollten. Die lieber neu anfangen wollten. Als wäre das etwas, das erstrebenswert wäre. Ein schöner Mist ist das. Ein schönes Vermissen von Beständigkeit, ein Vermissverständnis ist das.


Warum bist du gegangen. Warum wollte ich, dass du gehst. Warum konntest du nicht bleiben. Ich verstehe es am Ende nicht, wie auch, wenn man immer zwischen Anfang und Mitte hängen bleibt. Für dieses eine Leben, das sie alle haben, sterben sie im Versuchen. Vermutlich war es nur Pech auf die getroffen zu sein, die es nicht anders konnten, oder besser wussten. Vermutlich war es nur schlechtes Timing ein Leben lang, in jedem Herz tickt die Uhr anders. Ich hab es immer ernst gemeint, weißt du. Ernsthaft. Das es nicht geklappt hat, hatte sicher nichts mit mir zu tun, denn ich passe ja zu mir und der Ort, an dem ich bin, ist meistens okay, außer wenn ich meinen halben Quadratmeter geteilt habe und dann wieder allein da stehe. Und das ist die große Kunst, es auch in Zukunft ernst zu meinen. Neu anfangen, auspacken, einräumen, die Gegend erkunden, wissen, wo man anfassen muss, das alles fühlt sich vertraut an, unaufgeregt fast. Wenn man das Neue kennt, dann ist es auch nur immer wieder die alte Leier. Deshalb: Bleib doch. Lass uns was neues ausprobieren, etwas das bleibt. Es ist doch ganz okay hier. Die Fenster sind zwar etwas dreckig, und das Gewürzregal ist nicht angeschraubt. Aber es läuft immer gute Musik, und wenn sie nicht gut ist, dann ist sie zumindest der Rede wert. Ich hab ein paar alte Fotos in den Flur gehängt, damit du weißt, wo ich herkomme. Dazwischen ist jetzt wieder Platz für Konzertkarten oder Tickets für den Hogwarts Express. Oder für deinen Abschiedsbrief. Es gibt etwas Warmes zu Essen und die Nächte sind still in meinem Schatten. Bring dich mit, wie du bist. Verstell dich bloß nicht, sonst verstellen wir am Ende wieder nur die Möbel. Ich nehme alles mit, weil du es wert bist. Und wenn du es nicht bist, dann war ich es das zumindest. Du kannst kommen und gehen wann du willst. Im Schukarton ist noch dein Platz. Ich bitte dich nur um eine Sache. Bleib. Oder stirb beim Versuch.  


.felix wetzel

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