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#33 // Fränk



Herr Jacobi war auf den Tag genau 35 Jahre mit seiner Frau verheiratet. Und er hatte seit anderthalb Monaten eine Affäre. Zum ersten Mal in seinem Leben. Wobei Affäre nicht ganz stimmte, eigentlich war es schlimmer. Er war verliebt. Erst zum zweiten Mal in seinem Leben, wobei das erste Mal eigentlich noch anhielt. Hatte er gedacht. Dieses zweite Mal war ihm so irgendwie dazwischen gekommen. Es war ihm passiert, eigentlich hatte er keine Schuld. Er hatte weder etwas dafür noch dagegen getan. Seine Frau hatte davon keine Ahnung, Herr Jacobi wollte es ihr auch nicht sagen. Es würde sie nur verletzen, denn sie würde es nicht verstehen. Er verstand es ja selbst nicht. Manchmal hatte er deshalb ein schlechtes Gewissen. Aber die meiste Zeit von den anderthalb Monaten, die die Verliebtheit jetzt dauerte, war es eben einfach so. Für Panik fühlte sich Herr Jacobi zu alt.


Sie feierten ihren Hochzeitstag immer gleich: Er kaufte einen großen Strauß Gerberas, meistens orange und rot gemischt, in der Mitte eine einzelne gelbe Blume. Seine Frau liebte Gerberas. „Sie machen alles schöner“ hatte sie einmal zu ihm gesagt. Vielleicht brauchten sie beide diese kleine Hilfe. Zu den Gerberas schenkte Herr Jacobi seiner Frau immer ein neues Buch, vorne hinein schrieb er jedes Jahr „Wie immer sprachlos. Dein Jakob“ und dazu das Datum. Sie las sehr viel und manchmal fragte er sich, wie sie wohl miteinander wären, wenn sie nicht so oft versunken in ihrem Lesesessel sitzen und den Kopf gesenkt halten würde. Zu ihrem 50sten Geburtstag hatte er ihr ein Bücherregal gebaut. Das war nun schon fast voll. Sie dagegen schenkte ihm nichts, das hatte er so durchgesetzt. Dafür tranken sie immer am Nachmittag ihres Hochzeitstages zusammen Kaffee, zur Feier des Tages machte sie ihm seine Lieblingssüßigkeit: frische Eierschecke. Das ganze Haus roch dann so gut. Dazu spielten sie die Frank Sinatra Platte, zu der sie sich damals beim Sonntagstanz kennengelernt hatten: „The impossbile dream“. Die Platte hatte ein paar Kratzer, aber sie lief noch gut durch. Ein wenig hatte sie mit den Jahren zu knistern begonnen.


Herr Jacobi war nicht unglücklich mit diesen Ritualen. Im Gegenteil. Es nahm ihm den Druck sich nach so vielen Jahren immer wieder etwas Neues einfallen lassen zu müssen. Darin war er nicht sonderlich gut. Was er konnte, war das Glück zu konservieren, ihm die Luft zu nehmen und es in einem Vakuum zu verpacken. Deshalb kam ihm seine Verliebtheit auch so ungelegen. Es war etwas Neues, und das war nicht vorgesehen. Die Liebe zwischen ihm und seiner Frau hatte sich seit Jahren nicht verändert. Er mochte das. Sie waren zärtlich miteinander, sie hörten sich zu und fragten nicht immer gleich nach, wenn der andere einmal still war. Alles war an seinem Platz, es gab keinen Grund, mehr zu wollen. Oder weniger. Deshalb wusste er auch, dass seine Frau ihn nicht nach seinem neuen Gefühl fragen würde. Sie hatte es sicher längst bemerkt, also dass etwas anders war mit ihm. Anfangs hatte er gar nicht bemerkt, dass er sich verliebt hatte. Das Gefühl hatte sich angeschlichen und war ihm in den Rücken gefallen, direkt durch bis zum Herzen. Zum ersten Mal waren sie sich an einem Sonntagnachmittag im April begegnet. Herr Jacobi hatte in seinem Garten die Bäume beschnitten, das machte er immer im Frühling. Er hatte oben auf der Leiter gestanden, in seinem Birnenbaum, und in seinen Augenwinkeln hatte sich etwas bewegt. Etwas, das er nicht kannte.


Neues fiel ihm immer sofort auf. Er hatte sich umgedreht und an der Rückwand seines Hauses einen Schatten entdeckt, der sich in der Nachmittagssonne leicht hin und her bewegte. Und aus irgendeinem Grund, warum hätte er keinem erklären können, das konnte er bis heute nicht, fand er den Schatten schön. Er sah nicht wirklich aus, wie ein Mensch, erst Recht nicht, wie eine Frau. Aber ein wenig schon. Er sah einen Kopf, lange Haare, vielleicht sogar Beine. Vielleicht war der Schatten entstanden, als er ein paar Zweige des Baums abgeschnitten hatte. Vielleicht auch nicht. Er war plötzlich einfach da, die Sonne schien und etwas stand ihr im Weg, das fehlende Licht machte etwas greifbar. Herr Jacobi stand mit verdrehtem Hals auf seiner Leiter und starrte auf den dunklen Fleck, der ihn berührte. Seine Heckenschere fiel ihm aus der Hand und polterte über die Metallstufen nach unten. „Jakob, alles in Ordnung bei dir?“ Seine Frau hatte den Kopf aus dem Fenster gesteckt und schaute besorgt in seine Richtung. „Ja, alles okay. Hab nur kurz nicht aufgepasst.“ Der Kopf verschwand wieder im Haus und Herr Jacobi blickte zurück zum Schatten. In diesem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne und der Schatten verblasste. „Weitermachen“ schoss es durch seinen Kopf. Den Rest des Tages konnte er den Schatten nicht mehr vergessen. Jeden Nachmittag ging er von da an in den Garten und schaute auf die Wand. Erst kurz, nur im Vorbeigehen, dann immer länger. Er sah jedes Mal anders aus, ohne dass er hätte sagen können, was genau sich verändert hatte. Die Form blieb immer gleich, aber manchmal schien ihm der Schatten nachzulaufen, er bewegte sich, an der Wand, in ihm.


Am Wochenende nach dem Kennenlernen musste er die Blumen im Garten pflegen. Er hatte frische Erde gekauft und schüttete sie auf die blassen Beete, das war gut für die Pflanzen, aber vor allem schön anzuschauen. Herr Jacobis Auge wuchs nämlich mit. Gebückt stand er über dem Beet und schüttelte sich den Humus aus dem Ärmel. Gerade als er den Kopf hob, um zu sehen, wie weit es noch bis zum Ende des Beetes war, sah er wieder den Schatten. Es war ein sonniger Tag und die Schönheit an der Wand hatte klare Kanten. Im Prinzip sah sie aus, wie beim letzten Mal, nur dass sie sich dieses Mal nicht bewegte. Es war ein Tag ohne Wind, dafür mit blauem Himmel und jede Farbe drückte aus ihrer Hülle kräftig nach draußen. Herr Jacobi hatte den Sack mit dem Humus abgestellt, sich aufgerichtet und ein paar Minuten zugeschaut, wie das fehlende Licht ein schönes Loch in seiner Realität hinterließ. Da der Schatten so still stand, kam es ihm fast so vor, als würde sie ihn anschauen. Sie, wie kam er darauf, dass die Form eine Person war. Und warum gerade eine Frau. In seinem Bauch floss eine warme Flüssigkeit in eine andere. Er ging in den Schuppen, holte sich einen Stuhl, stellte ihn neben das Blumenbeet und setzte sich. Er erinnerte sich an einen Moment, als er seine Frau das erste Mal unter der Dusche gesehen hatte. Sie waren gerade frisch zusammengezogen und das erste, was er an der Wohnung verändert hatte, war einen Duschvorhang für sie anzubringen. Er hatte an diesem Morgen vor 40 Jahren nicht gehört, dass sie ins Bad gegangen war und überraschte sie während ihrer Morgendusche.


Der Vorhang war nicht durchsichtig gewesen, sondern weiß, als wäre er in Milch gefallen. Die Haut seiner Frau drückte immer wieder durch die Nässe hindurch, sie war ein heller Schatten, der eine Art ungelenken Tanz aufführte. Eine Weile hatte er so gestanden und ihr zugeschaut, bis sie ihn bemerkt und aus dem Badezimmer geschmissen hatte. Herr Jacobi erinnerte sich nicht sehr oft an früher, aber das war ein schöner Moment gewesen. Er war ihm einfach so eingefallen und er spürte, dass er ihn vermisste, also den Moment. Der Schatten wanderte in der Zwischenzeit langsam mit der Sonne in Richtung Fenster und fiel verzerrt auf den Gehweg. Herr Jacobis Stuhl knarrte leise, wenn er tief einatmete. Und aus irgendeinem Grund atmete er oft tief ein, während er da saß. Diese Sache da an der Wand vor ihm, erinnerte ihn an etwas. Vielleicht war es seine Jugend, vielleicht war es seine jüngere Frau, vielleicht auch etwas ganz anderes. Er kam nicht drauf. Aber von da an kam er jeden Nachmittag in den Garten, setze sich auf den Stuhl und schaute auf die Wand.


Einmal, er hatte sich gerade hingesetzt und darüber nachgedacht, ob sich der Schatten verändert hatte, war seine Frau zu ihm hinaus gekommen. In der Hand hatte sie eine geöffnete Flasche Bier. Sie gab sie ihm in die Hand, legte die frei gewordene Hand auf seine Schulter und fragte: „Ist alles in Ordnung? Du sitzt in letzter Zeit oft hier. Ist es der Rücken?“ Herr Jacobi wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich ertappt. Vielleicht wurde er sogar etwas rot. „Nein, es ist alles okay. Ich finde nur unser Haus so schön. Da schau ich es eben gern an.“ Seine Frau drehte den Kopf und schaute die weiße Wand an, auf der der Schatten keinen Mucks machte. „Ja, wir haben ein schönes Haus. Das stimmt.“ Sie nickte leicht mit dem Kopf, Herr Jacobis Herz klopfte bis zum Hals, sie hätte es eigentlich sehen müssen, wie sich sein Kragen vor und zurück bewegte. „Komm doch dann rein, ich hab uns Kaffee gemacht.“ Das sagte sie und ging mit langsamen Schritten wieder zurück ins Haus. „Ja, ich komme gleich“ rief er ihr hinterher. Und er bildete sich ein, dass sich der Schatten erst in diesem Moment wieder bewegte und für ihn tanzte. In der darauffolgenden Nacht träumte Herr Jacobi sogar von der Schattenfrau an der Wand. Sie stand im Dunklen, er konnte nur ihre Umrisse sehen, nur ein wenig Licht fiel in einem dünnen Strahl auf ihre Hände, wenn sie sich bewegte. Sie hatte schöne Hände, jung, mit glatter Haut. Im Traum nahm die Hand aus dem Halbdunkeln heraus seine Hand und strich mit einem Finger leicht darüber. Herr Jacobi war davon aufgewacht. Mit klopfendem Herzen lag er neben seiner Frau, die ruhig atmete und keine Ahnung hatte. Da musste er kurz lächeln, legte dann seine Hand auf die Schulter seiner Frau, die sich daraufhin ein wenig von ihm wegdrehte.


Heute nun am Hochzeitstag wollte er nicht hinaus in den Garten auf seinen Stuhl. Das war er ihr schuldig, aber er dachte trotzdem immer mal wieder daran. Gerade hatte er seine Eierschecke gegessen, Fränk sang seine Lieder und die Schallplatte knisterte leise. Seine Frau war unruhig, wegen des Windes draußen. „Hast du oben alle Fenster zu, Jakob? Der Wind ist wirklich stark. Nicht, dass uns noch eine Scheibe zerbricht.“ „Ich hab alles zugemacht, ja. Aber wenn du willst, geh doch kurz nach oben und schau selbst nach.“ Seine Frau nickte dankbar und ging hinaus in den Hausflur. Er hörte ihre Schritte über sich poltern, erst im Arbeitszimmer, dann im Schlafzimmer, schließlich ging sie noch hinauf auf den Dachboden. Sie hatte die Wohnzimmertür einen Spalt offen gelassen, der Wind heulte durch den freien Raum und bog sich um die Ecken. Herr Jacobi blickte zum Fenster. Es war sehr wolkig, schon ziemlich dunkel für die Tageszeit, gleich würden sie die Stehlampe anschalten müssen. Die Wipfel der Bäume bewegten sich heftig hin und her. Es war kein Licht, das Schatten warf. Darüber war Herr Jacobi ein wenig froh, denn es führte ihn nicht in Versuchung. Als seine Frau wiederkam, räumte sie die Teller und die Tassen in die Küche, dann setze sie sich in ihren Sessel und schlug ihr Buch auf. Draußen knirschte es.


Herr Jacobi stand auf und ging zur Anbauwand. Er drehte die Platte von Fränk herum, suchte mit der Nadel die richtige Stelle und spielte noch einmal ihr Lied. „To fight the unbeatable foe“ sang er. Und Herr Jacobi sagte zu seiner Frau: „Komm, ich will mit dir tanzen.“ Sie schaute ihn überrascht an. Aber er hielt ihr die Hand hin und ließ ihr keine Wahl. Sie stand auf, legte ihre Hand in seine und dann tanzten sie langsam und ohne wirklich auf den Rhythmus zu achten, bis das Lied vorbei war. Schön war das, dachte Herr Jacobi. Seine Frau drehte sich so sanft und vorsichtig, als wäre der Wind unter ihr Kleid gefahren, um ihre müden Beine zu bewegen. Sie gingen früh ins Bett an diesem Abend und Herr Jacobi hatte einen unruhigen Schlaf. Vielleicht lag das am Sturm, der draußen war. Oder an dem drinnen.

Am nächsten Morgen ging er noch vor dem Frühstück in den Garten. „Ich will sehen, ob der Sturm etwas kaputt gemacht hat“ sagte er zu seiner Frau. Als er die Kellertreppe zum Garten hochstieg sah er es sofort: Der Wind hatte zwei große Äste abgebrochen, einen von der Kirsche und einen vom Birnenbaum. Das frische Holz leuchtete unter der schmutzigen Rinde hervor, wie Wunden eben leuchteten. Herr Jacobi holte ein Beil aus dem Schuppen, schlug die Äste klein und legte sie unter die Plane mit dem Feuerholz für den Winter. Dann ging er zum Stuhl, der auf der Wiese lag, umgekippt, aber immer noch an Ort und Stelle. Er räumte ihn in den Schuppen, schloss die Tür ab und ging auf direktem Wege ins Haus. Er legte die Fränk Sinatra Platte auf, setze sich an den Computer und bestellte einen Duschvorhang. Nicht durchsichtig. Aber in Milch gefallen.


.felix wetzel. 

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