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#31 // Ob das jemals aufhört



„Wie geht es dir?“


Kein Platz in einer Antwort für all die kleinen wichtigen Dinge, die mit den Jahren so passiert sind. Und die in kein Gespräch zwischen alten Freunden passten, das an einem wackligen Restauranttisch geführt wurde. Das Holz des Tisches hatte Jahresringe, sie schauten unter der verrutschten weißen Papiertischdecke hervor, manche waren dick und schwarz, andere ganz dünn. Ihre Frage war ernst gemeint, das spürte Elias. Aber mehr auch nicht, mehr spürte er nicht. Irgendetwas staute sein Blut. Sie wartete geduldig auf seine oberflächliche Antwort, während sie sich ihr schwarzes Haar um den rechten Zeigefinger wickelte. Elias wusste nicht, was genau sie da um den Finger wickelte.


„Ganz okay… jetzt wieder.“


Eine Antwort, die seinen Schmerz nicht im Ansatz fassen konnte. Nicht in einem Gespräch, das zwischen zwei Leben geführt wurde, die gerade einen Abend frei vom Schicksal hatten. Elias war zu ehrlich, es war zu früh dafür. Er biss sich auf die Lippe. Gespräche sicher in eine Spannungskurve zu führen, das war nicht sein Ding. Er fuhr zu schnell in den Abend. Eine peinliche Pause entstand. Zum Glück brachte der Kellner sein Weizen, sie trank Weinschorle, die zweite schon, sie musste ja noch fahren. Der Tische wackelte. Elias zerknickte einen Bierdeckel und klemmte ihn unter das schuldige Tischbein. Es half nichts, das Gespräch hatte Schlagseite. Sie nickte, als würde sie verstehen. Es hatte sie wirklich interessiert. Aber mehr auch nicht, sie fühlte nichts dabei. Sie blockierte ihren Puls.


„Nee ehrlich. Es geht mir gut.“


Sie lehnte sich nach hinten, das Holz knarrte. Mit verschränkten Armen und verschränkten Beinen saß sie auf ihrem Stuhl und glaubte ihm nicht. Vermutlich fiel ihr das nicht mal auf, aber Elias hatte einen Blick dafür. Für ihn sprach immer der ganze Körper, auch die Luft um die Menschen herum flimmerte. Sie hielt ihn auf Abstand mit ihren Armen, das X in ihren Oberschenkeln sagte ihm, dass es keinen Platz für ihn irgendwo gab. Ihre Augen aber verrieten sie. Sie funkelten, so wie früher, und fixierten einen Punkt, irgendwo zwischen seiner Ober- und seiner Unterlippe. Ihre Deckung war gut. Aber wenn sie einen Schluck Wein trinken wollte, musste sie ihre Festung öffnen. Dann nahm sie ihren rechten Arm, der linke blieb an Ort und Stelle, und trank hastig einen Schluck wässrigen Weißen. Danach leckte sie sich einen Moment zu lang ihre Lippen. Für diesen einen Moment schaute sie ihn nicht mehr an. Es verriet sie, sie wusste es. Abstand halten musste man – wenn man es ernst meinte – mit allem, was man hatte. Ihre Mutter hatte ihr das beigebracht. Elias trank einen großen Schluck Hefe auf den Flickenteppich, den sie zwischen ihnen ausgerollt hatte. Jetzt wusste er, dass es auch heute noch so war wie immer.


„Das freut mich.“


Sie lächelte, Elias überlegte, warum sie das wohl tat. War es Mitleid, war es Mitgefühl, war es Hoffnung oder die Befürchtung, dass er bereit für einen Angriff war. Er konnte es nicht sagen, etwas belegte seine Zunge, etwas, das schwer war und nach altem, klumpigem Blut schmeckte. Elias starrte auf den Tropfen Weißwein, der ihn von ihrer Oberlippe aus betrunken machte. Ihre Zunge war rot und kräftig und nur kurz zu sehen. Lang genug. Seine Augen verrieten ihn. Sie wusste, wo er hinschaute. Aber sie wollte es nicht wahrhaben, sie brach die Verbindung ab und schaute in die Karte vor ihr. Seine Geschichte fiel unterdessen unter den Tisch, wo sie so lange liegen bleiben würde, bis die dritte oder vierte Schorle wirkte. Dort unten waren auch ihre Füße nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt. Wenn Elias aufgeregt war, rieb er seine Füße aneinander. Als sie die Karte umblätterte, bewegte sich ihr ganzer Körper, berührte sie aus Versehen mit ihrem Schuh unter dem Tisch seinen. Es war so wichtig, was da unten passierte, aber der Moment noch nicht reif, deshalb schwiegen sie so angestrengt, dass die Weingläser zu summen anfingen. Die Sache mit der Freundschaft war schon immer eine Art gewesen, die Arme vor dem anderen zu verschränken, ohne ihn wirklich fortschicken zu müssen. Elias rückte seinen Stuhl einen Zentimeter nach hinten und versuchte vergeblich, den Wein auf ihrer Oberlippe zu vergessen.


„Ich denke ich werde eine Pizza nehmen.“

Elias wusste, dass sie keine Pasta essen konnte. Sie hätte die Soße von ihren Lippen lecken müssen, vielleicht wäre sogar etwas davon auf den Tisch gespritzt. Das wäre peinlich gewesen. Peinlich, weil sie es gut gefunden hätte, weil man es ihr angesehen hätte, wie gut. Schauspielerin hätte sie nicht werden können, keine im ernsten Fach, zumindest nicht, wenn er im Publikum saß. Und sie war doch verheiratet und hatte zwei Kinder, da war das Spielen vorbei. Eigentlich. Elias las die Worte auf ihrer Stirn, sie liefen auf einem roten Laufband von rechts nach links, er las sie, sie blätterte in ihm. Es war wie früher, sie waren wie früher. Er konnte nicht verbergen, dass es ihm schwer fiel, sie nicht anzuschauen. Sie konnte nicht verbergen, dass sie es gut fand. Beide wussten sie nicht genau, wie sehr sie es mussten. Er bestellte ebenfalls eine Pizza, aber ohne Hintergedanken. Er mochte einfach unheimlich gern rohen Schinken.


„Ich komme gleich wieder.”

Nachdem sie bestellt hatten, verabschiedete sie sich für ein paar Minuten. Es gibt verschiedene Arten von Fluchten, diese war die aus dem Moment heraus, in den man eigentlich lieber noch tiefer hinein möchte. Elias blieb allein am Tisch zurück und schaute sich im Restaurant um. Vier Tische um sie herum waren besetzt. Eine Familie mit zwei Kindern, die waren beschäftigt, der Abstand zwischen den Tischen war zu groß, als dass sie etwas hätten spüren können. Dem Jungen fiel außerdem gerade die Pasta in den Schoß, die Eltern arbeiteten mit allem, was sie hatten. An allen anderen drei Tischen saßen Menschen, von denen wenigstens einer hektisch wegschaute, als Elias hinsah. Es war, als wäre er Teil eines spannenden Filmes und schaute aus der Leinwand heraus auf sein Publikum. Die anderen wussten, was hier lief, aber sie wussten nicht, wie es ausgehen würde. Die Spannung hielt sie alle hier drinnen gefangen in einem Duft aus Pizzateig, Essig und Oregano. Sie kam wieder und setzte sich, ein paar Köpfe drehten sich mit ihr mit. Sie sah gut aus, auch nach all den Jahren noch. Schwarze lange Haare, das Blitzen in ihren Augen machte Gewitter in der Luft, ihre Armreifen klimperten verheißungsvoll und wenn sie lachte, hatte Elias Feuerfliegen im Bauch. Am Nachbartisch schlossen sie Wetten ab. Die Quoten standen gut.


„Wie ist es so, verheiratet zu sein?“


Schon nach dem „so“ wusste sie, was Elias fragen würde. Es war der K.O. für die Schwachen. Jetzt würde er sehen, wie weit sie gehen würde. Er würde wissen, wie viel Sehnsucht unter ihrem Make-up darauf wartete, hinunter auf ihre Lippen gewischt zu werden. Sie waren über die Jahre hinweg oft an diesem Punkt gewesen, schon sehr oft. An diesem Punkt, an dem man sich entscheiden musste, wie und was man wie weit öffnen will. Es sind die Momente, in denen wir am ganzen Körper spüren, dass man uns genau zuhört, uns beobachtet und wissen will, wie weit wir gehen wollen. In einem Park, in einem Auto, in einem Einkaufszentrum (Schuhladen), in einem Bus und mitten auf der Straße gegen Mitternacht hatten sie sich so angeschaut wie jetzt. In einem Restaurant noch nie. Einer von beiden hatte sich immer aus der Affäre gezogen. Aber hier und heute konnte sie nicht wegrennen. Hier hörten andere zu. Hier kam es auf jedes Wort an, auf jede Geste. Die Quoten schossen durch die Decke. Ihre Augen senkten sich, sie legte einen Arm auf den Tisch und das X unter dem Tisch wurde zum V. Sie waren immer nur befreundet gewesen, er hatte immer mehr gewollt, sie auch, aber die Zeit war nicht auf ihrer Seite gewesen. Im Gegenteil, die Zeit hatte sie in die Irre geführt, sie gelockt mit vielen frischen Jahren, die noch vor ihnen lagen und ihnen dann ins Gesicht geschlagen mit all ihrer Vergänglichkeit. Wären sie untersterblich, sie würden erst die ganze Welt verliebt in sich machen, bevor sie miteinander ewig sein würden. Sie wussten, dass der andere da war. Das tötete im entscheidenden Moment den Reiz. Jetzt war sie verheiratet und er frei. Beim letzten Mal war es noch umgedreht gewesen.


„Es gibt Sicherheit. Das ist toll.“


Elias nickte und lehnte sich entspannt zurück. Während sie hastig versuchte, ihre Verteidigung wieder zu schließen und über ihr Haus, ihre Kinder und die Hochzeitsreise erzählte, lief ihr erster Satz langsam seinen Hals hinunter und bedeckte sein Innerstes mit einem warmen Film aus Adrenalin und frischem Blut. Heute war er der Stärkere. Bei ihrem Treffen hatte er sich noch schwach gefühlt. Wie eine gute Erinnerung, mit der sie sich unbedingt treffen wollte. Ein schöner Moment von früher, den sie nicht loslassen wollte, den sie immer wieder heraufbeschwören musste, wie einen faulen Zauber, wenn bei ihr keine Magie mehr übrig war. Als ob man ein Foto aus dem Album nimmt, und sich trifft mit dem, den man vermisst, der aber längst fort ist. Er war ihre Chance gewesen, immer in dem Moment, in dem ihr Leben nichts mehr zu bieten hatte in der Gegenwart. Dann kam sie zu ihm in die Vergangenheit, machte ihm schöne Augen und frischte seine Farben auf. Aber den Schritt in die Zukunft, den kannte sie nicht, sie kannten ihn beide nicht. Sie trafen sich stets im leeren Raum, den sie mit Blicken füllten. Heute war er der Stärkere, er glich ihr Verhältnis aus mit seiner Freiheit. Das machte etwas mit ihr, ihre Arme und ihre Beinen berührten sich nicht mehr. Sie merkte es selbst, und je mehr Elias sich zurücklehnte, desto näher kam sie ihm in Gedanken. Er nahm sein Telefon aus der Hosentasche und machte ein Foto von ihr, es gelang ihm gut, sie schaute an der Kamera vorbei zu ihm und unter dem Tisch schaute ihr linkes Bein hervor, das nicht mehr auf dem anderen lag. Sie hörte mitten im Satz auf zu sprechen und schaute ihn fragend an. „Zur Erinnerung für morgen. Damit ich weiß, dass ich dich wirklich getroffen und nicht geträumt habe.“ Sie lächelte, dann redete sie weiter, ohne darauf einzugehen. Unter dem Tisch stieß ihr Fuß gegen seinen. Sie zog ihn nicht weg, sondern ließ ihn genau so, dass sie seinen noch berührte. Dann legte sie ihren Arm auf den Tisch und kreiste mit einem Finger über die Stoffserviette. Elias legte derweil einen Schwarz-Weiß-Filter über das Foto von ihr.


„Wir möchten dann zahlen!“


Als sie aus dem Restaurant gingen, folgten ihnen die Blicke der Nachbartische vor die Tür. Wetteinsätze wurden eingelöst und Vermutungen in den fast leeren Gastraum gestellt. Auf dem Weg zu ihm liefen sie an einem dunklen Park vorbei, in den das Licht der Laternen nicht gelangte. In der Mitte war ein großer Springbrunnen, der noch lief, obwohl es lang nach Mitternacht war. Aus dem Dunkel heraus rauschte es, Elias war sich nicht sicher, ob es vielleicht doch nur das Blut in seinen Ohren war. Schweigend lief sie neben ihm her, ihre Schuhe klackten, immer wieder stießen sie mit den Oberkörpern wie zufällig aneinander beim Laufen. Ihre Haut war weich und warm, er fühlte es durch seinen Panzer hindurch. Sie blickte zu Boden und redete nicht. Elias wusste, dass sie überlegte, wie der Abend weitergehen sollte, aber heute ließ er ihr keine Chance, er hatte längst für sie beide entschieden. Als sie um die Straßenecke bogen, hinter der sein Haus lag, blieb sie kurz stehen. Elias lief noch zwei Schritte weiter und drehte sich dann zu ihr um. Sie schaute ihn an, eine ganze Weile, ohne etwas zu sagen. Eine Straßenbahn fuhr rumpelnd vorbei, irgendwo ein paar Straßen weiter liefen ein paar betrunkene Kerle und grölten ihre Einsamkeit in die Nacht. Sie kam zu ihm und stellte sich vor ihn, sie wuchs auf seine Augenhöhe und blickte ihn an. Für einen Moment waren sie wieder 19. Sie schauten sich an und 25 Jahre wuchsen zwischen ihnen in die Höhe. So viel Schmerz, unerfüllte Hoffnung, unausgesprochene Gedanken und Scham, Scham vor der eigenen Schwäche, sich immer wieder ineinander fallen zu lassen, egal wie gut oder schlecht das Leben sonst zu einem war. Und es am Ende doch nicht zu wagen, weil der Augenblick nicht richtig war. Sie waren sich stets der rettende Moment, nicht mehr und nicht weniger. Hinter dem Horizont graute die Zukunft. Es war nur ein einziger Abend, an dem sie vom Schicksal frei bekommen hatten. Zwischen ihnen passte jetzt keine Stoffserviette mehr. Mit der rechten Hand zog Elias sie an der Hüfte zu sich. Sie ließ es geschehen.


„Ich hoffe, es ändert nichts zwischen uns.“


Er umarmte sie lang und innig als Antwort. Er wollte nicht lügen, sie wollte belogen werden. Dann ging sie hinaus ins Treppenhaus und stieg ein paar Stufen hinab. Bevor sie ihn nicht mehr sehen konnte, drehte sie sich noch einmal um und schaute zu ihm hinauf. Elias stand in der Tür und hob die Hand zum Abschied. Was das auf seinen Lippen war in diesem Moment, konnte er nicht erkennen. Sie schon. Dann war sie weg, ihr Kopf verschwand hinter den Holzstufen. Er hörte ihre leiser werdenden Schritte im Treppenhaus und die Haustür, die krachend ins Schloss fiel. Dann schloss er die Wohnungstür und ging ins Schlafzimmer. Aus seiner Hose neben dem Bett holte er sein Telefon. Er öffnete das Fotoalbum „Gestern Abend“ und schaute sich das Bild von ihr an. Sie sah anders aus als eben, sie leuchtete noch, da waren weniger Schatten in ihrem Gesicht. Dann schickte er sich das Foto auf seinen Laptop und druckte es aus. Das Fotopapier glänzte, es war, als wäre die Vergangenheit noch frisch, formbar. Dann ging er nach nebenan in sein Fotozimmer. An den Wänden hier hingen sie alle: die Gesichter, die noch in seinem Leben eine Rolle spielten (Farbfotos), und die, die zur Vergangenheit geworden waren (schwarz-weiß). Er suchte nach ihr, es waren nicht mehr viele Farbfotos übrig, er fand ihres schnell. Vorsichtig nahm er das bunte Foto ab, das er vor über 20 Jahren von ihr gemacht hatte, an einem Strand, irgendwo an der Nordsee, ihre Haaren hingen ihr ins Gesicht und ein Lächeln versteckte sich scheu im Wind. Dann hing er das neue Bild von gestern Abend an seine Stelle.


„Ob das jemals aufhört, Elias?“

Das hatte sie letzte Nacht in sein Ohr geflüstert und keine Antwort erwartet. Nicht von ihm. Er überlegte, was er mit dem alten Foto machen sollte. Nachdenklich drehte er es in den Händen hin und her, damals, als er das Bild gemacht hatte, hatten sich Entscheidungen noch nicht so endgültig angefühlt. Oder waren es nicht gewesen. Vorsichtig faltete er das bunte Foto in der Mitte und legte es zwischen zwei weiße Blätter in die oberste Schublade des Fototisches. Den Schlüssel ließ er stecken. Man konnte ja nie wissen.

.felix wetzel.

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