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#30 // Push



Johnny saß am Ufer auf einer flachen Mauer mit den Beinen im See. Die Sonne setzte tausend kleine Blitze aufs Wasser, der Springbrunnen in der Mitte war in Betrieb und überall guckten fleischfarbene Köpfe aus den Wellen. In regelmäßigen Abständen rauschte der Wind in den großen Pappeln hinter ihm, die Enten zogen fließende Dreiecke auf dem See hinter sich her und Fahrradreifen brachten die kleinen grauen Kiesel auf dem Rundweg zum Springen. Johnny wartete auf sein Mädchen, Marie. Sie trafen sich jetzt schon seit zwei Monaten regelmäßig. Er mochte sie gern, sie machte ihn ruhig, weniger aufgeregt, ein bisschen wie ein Bügeleisen, das ihm die Wogen aus der Haut strich. Beim letzten Treffen hatte sie ihn ganz vorsichtig gefragt, ob er es ernst mit ihr meine. Ihre schwarzen Locken waren angespannt gewesen und ihre Sommersprossen blass. Er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte. Er hatte versucht zu nicken und ihre Sommersprossen hatten wieder Farbe bekommen. Seitdem war sein Leben perfekt. Alles an seinem Ort, das Glück lief ihm wie schmelzendes Wassereis an der Hand hinab. Sein Mädchen klug und schön, sein Job gut bezahlt und mit Perspektive, seine Wohnung groß und mit Balkon und Wanne, sein Fahrrad das schnellste der Stadt, seine Leber gesund und seine Freunde hörten sogar ihre Mailbox ab. Johnny überkam ein leichter Ekel vor sich selbst. Er schmeckte süß und klebte, legte sich als dünner Film zwischen ihn und die Welt. An Johnnys rechtem Oberschenkel spannte seine kurze Hose. Man konnte das flache Viereck mit dem Kreis in der Mitte in seiner Jeans gut erkennen. Er nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarette und atmete etwas Grau in die klare Juliluft. Es war ein schöner Tag. Gleich würde Marie kommen und sie würden um den See laufen, ein Himbeer-Vanille-Eis essen, über Belangloses reden und einmal zu viel lachen. Es war ein verlorener Tag. Johnny verlor sein Leben an die Perfektion und er wusste nicht, ob das okay war, das nicht gut zu finden. Er hatte das dringende Bedürfnis, den Knopf zu drücken.


„Drück da nur drauf, wenn du wirklich musst, Junge.“ Der Mann hatte sehr ernst zwischen seinem grauen Bart hervor geschaut, der wie ein faltiger Teppich auf seinem Gesicht verlegt war. „Überlege es dir gut.“ Johnny wollte ihm den kleinen schwarzen Kasten mit dem roten Knopf in der Mitte für einen Fünfer nur abkaufen, weil das Rot des Knopfes so schön kräftig war. „Don’t push the red button“ hatte auf einem Schild gestanden. Dann hatte ihm der Verkäufer diese Geschichte über das Teil erzählt. Das wäre ein „Lebensbeschleuniger“, so hatte es der alte Mann mit dem Teppich im Gesicht genannt. „Drückst du auf den Knopf, wird sich etwas ändern. Aber nicht unbedingt zum Guten.“ Johnny dachte, der Mann spielte nur ein Spiel, um seinen Schrott zu verkaufen. Also spielte er mit. „Warum heißt es dann Beschleuniger und nicht Veränderer?“ Der Mann beugte sich über den Tisch nach vorn und sprach mit ernster Stimme in Johnnys Ohr: „Weil Veränderung alles schneller macht. Sie ist wie ein Tunnel, aus dem du schnell wieder raus willst. Junge, du hast keine Zeit nach rechts oder links zu schauen, wenn du einmal drin bist. Und die Welt wird rasend schnell.“ Johnny hatte gelacht und den Beschleuniger für den Fünfer mit nach Hause genommen. Er hatte ihn auf seinen Wohnzimmertisch gelegt und eine Weile angeschaut. Und weil er nicht an Märchen glaubte, hatte er nach kurzem Zögern gegen 21:00 Uhr den Knopf gedrückt. Eine Stunde später hatte seine Mutter angerufen. Sein Vater. Ein Unfall. Schwer verletzt, keine Lebensgefahr. Zufall.


Ein paar Tage danach hatte Johnny morgens gleich nach dem Aufstehen auf den Knopf gedrückt, um sich zu beweisen, dass der Unfall seines Vaters und der rote Knopf nichts miteinander zu tun hatten. Minuten später, Johnny stand in der Küche und machte sich einen Kaffee, tropfte Wasser von der Decke. Als er nach oben schaute, sah er einen großen Fleck, der sich langsam von der Mitte aus in Richtung Wand ausbreitete und stetig dunkler wurde. Bei seinen Nachbarn war der Waschmaschinenschlauch gerissen. Den Rest des Tages herrschte eine riesen Aufregung im Haus, Havarie, streitende Mietparteien, nasse Teppiche im Innenhof, die Verhandlungen mit den Versicherungen und dem Vermieter zogen sich über Wochen. Eine Beschleunigung ins Wohlfühlminus. Alles nur wegen diesem Knopf in Rot. Zufall. Johnny glaubte immer noch nicht daran und wollte als Beweis eine ganze Woche lang jeden Tag einmal auf den Knopf drücken. So viel Beschleunigung könnte dann kein Zufall mehr sein. Sieben mal drückte er, immer morgens beim Kaffeemachen. Immer zog er dabei leicht den Kopf zwischen die Schultern. Es beschleunigte sich so einiges: Seine Ausgehfreundin machte Schluss, er riss sich beim Sport einen Teil seiner Bänder im Fußgelenk, die Kaffeemühle explodierte, sein bester Freund wurde ungewollt Vater, in der Nachbarwohnung brannte die Küche aus, beim Geburtstagskuchen für eine Freundin wurde der Guss nicht hart, seine Club verlor das Derby. Am Ende der Woche war er überzeugt, dass das Ding irgendwie tatsächlich funktionierte. Er legte den flachen Kasten ins Regal und lies ihn dort. Die Beschleunigung hörte dann auch vorübergehend auf. Er lernte Marie kennen.


Marie kam mit dem Fahrrad. Sie fuhr eines dieser großen Hollandräder, auf dem die Leute so aufrecht saßen, dass sie riesig wirkten. Sie winkte ihm schon von weitem zu, als sie ihn entdeckte. Dabei ließ sie kurz eine Hand vom Lenker und fuhr einen kleinen Schlenker. „Hallo. Was für ein schöner Tag“ sagte sie zur Begrüßung und stellte ihr Fahrrad auf den großen Kippständer. „Stimmt“ antwortete Johnny zur Begrüßung und schnippte seine Zigarette auf den Weg. Als sich ihre Lippen berührten schmatzte es. „Schönen Platz hast du dir hier ausgesucht. Warst du schon baden?“ Johnny schüttelte den Kopf. „Nee, irgendwie ist mir heute eher nach beobachten.“ Marie legte den Kopf schief, das tat sie immer, wenn Johnny ihr seltsam vorkam. Dann lächelte sie, kniff in seine Hand und wechselte das Thema. „Was ist denn das da in deiner Tasche? Etwa ein Geschenk für mich?“ Marie zeigte mit dem Finger auf den Kasten in seiner Tasche. Sie trug kräftigen roten Nagellack. „Sieht doch fast aus wie ein Karton für schöne Ketten. Mädchen lieben schöne Ketten, weißt du.“ Johnny musste grinsen und schaute ihrer Fingerspitze hinterher. „Das ist leider keine Kette. Jungs lieben Ketten kaufen nicht ganz so sehr, weißt du.“ Marie feixte, hinter ihr bellte ein Hund ein Kind an.


„Es ist ein Lebensbeschleuniger. Hab ich vor drei Monaten oder so auf dem Flohmarkt von einem bärtigen Mann gekauft.“ Wieder der schiefe Kopf. „Ein was? Ein Lebensbe-was?“ Marie kräuselte ihre Lippen, ihre Zähne waren so weiß, dass Johnny spontan das Bedürfnis hatte, sich seine zu putzen. „Zeig mal her!“ Fordernd hielt sie ihre Hand auf und lachte Johnny an. Umständlich zog er den Kasten aus der Tasche, behielt ihn aber in seiner Hand. „Oh toll, ein roter Knopf. Ich liebe rote Knöpfe!“ Marie klatschte in die Hände. „Darf ich mal drauf drücken? Los, lass mich drauf drücken!“ Ihr Finger kreiste wie eine Wespe über dem Beschleuniger. Johnny zog ihn hastig weg. „Vorsicht! Wenn du da drauf drückst, passiert was.“ Maries Hals musste schon wehtun von ihrem schiefen Kopf. Sie wurde misstrauisch. „Aha, und was passiert dann? Was schönes?“ „Muss nicht.“ Johnny überlegte, ob er ihr alles erzählen sollte. „Hast du denn schon mal drauf gedrückt?“ „Ja.“ „Und?“ „Es sind eine Zeit lang echt komische Sachen passiert. Mein Vater, der Knöchel, der Wasserschaden. Und ich hab dich kennengelernt.“ Marie lachte, ihre Locken waren locker und ihre Sommersprossen dunkelbraun. „Das klingt doch nach einer total positiven Beschleunigung des Glücks.“ Johnny senkte den Kopf, damit sie seinen Zweifel nicht sah. Das Rot sah wirklich verlockend aus. Marie stupste ihn am Knie an. „Alles okay?“ Johnny wollte, dass Marie auf den Knopf drückte. Er wollte es nicht selbst tun. „Drück du doch mal drauf“ sagte er und hob den Kopf. Maries Sommersprossen erröteten. Johnny hielt ihr den Beschleuniger hin. „Ich glaube nicht an so etwas.“ „Dann kannst du ja gerade drauf drücken. Hab ich auch so gemacht.“ „Hat der Mann denn erzählt, ob es wichtig ist, wer darauf drückt? Oder kommt es darauf an, wer den Beschleuniger besitzt?“ Johnny überlegte. „Nee, hat er nix zu gesagt. Aber ist ja auch egal, wenn du eh nicht daran glaubst. Dann kann dir ja auch nichts Schlimmes passieren. Stimmt’s? Das glaubst du doch: Wenn du nur positiv genug denkst, wird auch alles gut.“ Johnny ertappte sich dabei, wie seine Stimme härter klang, als er das eigentlich gewollt hatte. Marie starrte auf den Beschleuniger und war ganz still. Johnny bildete sich ein, dass das Rot des Knopfes auf ihr blasses Gesicht strahlte. „Willst du mir damit irgendwas sagen?“ Maries Kopf lag schräg auf ihrer linken Schulter, in ihrem Gesicht arbeitete es.


„Nein. Es ist doch nur ein roter Knopf, den mir ein verrückter Bärtiger auf dem Flohmarkt verkauft hat.“ Marie war nicht überzeugt, an ihrem Hals sah Johnny es pochen. „Du magst doch rote Knöpfe. Ich mag sie auch. Wenn ich nicht drauf gedrückt hätte, wer weiß ob wir uns begegnet wären.“ Johnnys Haut knirschte bei seinem Versuch zu lächeln. Maries Augenbrauen bildeten eine Linie, die irgendetwas unterstrich. „Oder hast du Angst davor? Ich denke, du glaubt doch an so etwas.“ Johnny wusste, was er sagte. Marie richtete sich kerzengerade auf. „Darf ich das Ding haben?“ „Wie?“ „Gib es mir. Ich habe keine Angst vor diesem Ding.“ Johnny reichte ihr den Beschleuniger. Marie hielt ihn auf der flachen Hand. Dann drückte sie mit dem Zeigefinger auf den Knopf, es klackte. Dabei schaute sie Johnny fest in die Augen. Johnny hielt die Luft an. Marie schaute sich um. „Siehst du. Nichts passiert.“ Johnnys Mund stand ein Stück weit offen. „Und jetzt nehme ich das Ding mit zu mir. Da es sowieso nicht funktioniert, brauchst du es auch nicht mehr.“ Marie wickelte den Beschleuniger in ein Tuch aus ihrer Tasche und verstaute das Gerät zwischen Bonbontüte und Wechselunterwäsche. Johnny sah, wie das Rot in der Tasche verschwand. Unterdessen schob eine Wolke die Sonne beiseite.


„So.“ Marie sah zufrieden aus. „Können wir jetzt endlich ein Eis essen gehen? Ich hab total Lust auf Himbeer-Vanille. Du auch?“ Johnny stand auf, strich sich die Hände an der Hose ab. Ein paar Meter weiter sprang gerade ein Hund ins Wasser, es platschte laut und hechelnd schwamm der Labrador seinem Stock hinterher. Beide schauten sie dem Fellknäuel zu, es sah ziemlich glücklich aus. „Eis wär gut jetzt. Lass aber mal heute anders herum laufen, okay?“ Maries Locken kräuselten sich. „Warum? Das dauert doch viel länger?“ Johnny strich mit dem Zeigefinger über ihre Wange, dabei wischte er ein paar Sommersprossen weg. „Nur so ein Gefühl.“ Marie nahm ihr Rad in die linke und Johnnys Hand in ihre rechte. „Weißt du wen ich heute getroffen habe? Kommst du nie drauf.“ Johnny machte ein fragendes Gesicht, während der Tunnel rechts und links neben ihm enger wurde. In Gedanken formulierte er den ersten Satz seines Briefes: „Liebe Marie, ich glaube das Ding hat doch funktioniert.“


.felix wetzel.

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