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#29 // Die Zeitmaschine



Elias Wald war im Besitz einer Zeitmaschine. In seiner Wohnung hatte er ein extra Zimmer für sie, die Maschine brauchte Platz. Es gab zwei Schlüssel für den Raum, einen trug er zu jeder Tageszeit an einem Lederband um den Hals, immer unter seinem Hemd oder seinem Pullover. Der andere lag versteckt unter einem lockeren Stück Parkett in seinem Flur, hinter der Wohnungstür an der Kehrleiste. Elias Wald stellte immer seine großen schwarzen Winterstiefel darüber. Niemand durfte von seiner Maschine wissen. Er wusste, dass sie sie ihm dann wegnehmen und schlimme Dinge damit tun würden. Denn die Zeitmaschine funktionierte. Er benutzte sie jeden Tag und er konnte nicht mehr ohne leben.


Wenn Elias Wald zur Arbeit ging drückte der Schlüssel zum Zeitmaschinenzimmer kühl unter seiner Kleidung auf seine Brust. Er war flach, aus Metall und so glatt poliert, dass er sich verzerrt darin sehen konnte. Wenn er schnell die Treppen herunter lief, klopfte er auf seinem Brustbein herum. Wenn er langsam lief, schmiegte er sich kühl an ihn. Wenn es warm war, begann er darunter zu schwitzen. Er mochte den Gedanken, so etwas Wertvolles heimlich bei sich zu tragen. Und selbst wenn er ihn einmal verlieren und der Schlüssel gefunden werden würde, niemand könnte etwas damit anfangen, sie würden ihn für einen normalen Wohnungsschlüssel halten. Alle Freunde und Kollegen wussten, dass er ein seltsamer Zeitgenosse war, aber vom Zimmer und dem Schlüssel wussten sie nichts. Seine Maschine machte ihn selbstbewusster gegenüber der Welt, die ihn nicht verstand. Wenn ihn zum Beispiel auf der Arbeit jemand kritisierte, machte ihm das nicht mehr so viel aus aus, denn keiner von seinen Kollegen hatte so etwas Wertvolles zuhause. „Herr Wald, ihre Leistungskennzahlen werden Jahr für Jahr schlechter. Wir haben Verständnis für die persönlichen Situationen unserer Mitarbeiter, aber so geht das nicht ewig weiter.“ Das waren solche Sätze, die jemandem, der eine Zeitmaschine besaß, naiv und lächerlich vorkamen. Er nickte dann und sagte: „Geben Sie mir noch etwas Zeit.“ Jeden Tag zum Feierabend räumte Elias Wald seinen Schreibtisch auf. Er zerriss nicht mehr benötigte Dokumente in kleine unlesbare Schnipsel und warf sie in den Papierkorb, er wischte mit einem feuchten Lappen die Krümel seines Frühstücks von der Tischplatte, er ordnete die Kugelschreiber und Textmarker aneinander aus und legte den kleinen Block für die Haftnotizen im rechten Winkel zur Tischkante. Dabei dachte er an seine Maschine und stellte sich vor, wie er gleich den Schlüssel im Schloss zwei Mal herumdrehen würde, wie dann die schwere Tür den Blick freigeben würde auf seinen Schatz. Das Telefon an seinem Tisch schaltete er bevor er ging auf stumm. Im Treppenhaus klopfte dann der Schlüssel gleichmäßig auf seine Brust.


Elias Wald hatte seine Zeitmaschine selbst installiert, er hatte kaum etwas kaufen oder bauen müssen dafür, es war alles bereits da gewesen. Ein wenig Lack hier, ein paar Glühbirnen da, hin und wieder mit dem Staubsauger durch. Nur die Tür und das Schloss hatte er ausgetauscht. Diesen Umbau musste er mit seinem Vermieter absprechen, die neue Tür war so massiv, dass die Veränderung an seiner Wohnung zu groß war, um es ohne Erlaubnis durchzuführen. Um kein Risiko einzugehen, hatte er die Sicherheitstür angemeldet. Seine Notiz unter „Verwendungszweck“ hatte gelautet: „Erhöhtes Sicherheitsbedürfnis.“ Das war nur halb gelogen, Elias Wald fühlte sich zwar nicht unsicher in seiner Wohnung, aber seine Zeitmaschine musste bestmöglich geschützt werden. Bei der Hausverwaltung hatte niemand nachgefragt. „Man kann jedes Schloss knacken und jede Tür öffnen, Herr Wald. Mit dem richtigen Werkzeug und etwas Zeit.“ Das hatte der Mann von der Sicherheitsfirma gesagt. „Dann möchte ich dafür sorgen, dass Einbrecher so viel Zeit brauchen, um das Schloss zu öffnen, dass man sie auf frischer Tat erwischen kann.“ hatte er geantwortet. Bandbolzen-Auszugssicherung, Sicherheitsbeschlag mit Zylinderabdeckung, aufbohrgeschützter Profilzylinder und Schraubensicherungen mit Einschlagsternen, damit kannte er sich jetzt aus. Für den Winter hatte er sich vorgenommen, auch die Fenster umzubauen. Bis jetzt schützte das Zimmer nur eine bunte Gardine vor Blicken von draußen. Das Fensterglas war so dünn wie Elias Walds Knochen. Im Herbst hörte man den Wind durch die Ritzen pfeifen, dann begann die Gardine in sanften Wellen zu tanzen, wie eine Schlange aus 80 Prozent Polyester. Für die Zukunft wollte er Sicherheitsglas und eine Alarmanlage installieren. Das Schreiben für die Hausverwaltung lag bereits auf seinem Schreibtisch.


Seine Frau war gegen die Zeitmaschine gewesen. Deshalb war sie letztendlich auch ausgezogen. Deshalb und weil sie nicht mehr viel miteinander geredet hatten, reden konnten. Wenn sie Elias Wald besuchte, drehte sie dem Schloss den Rücken zu. Sie setzte sich so an den gedeckten Kaffeetisch, dass sie die verstärkte Tür nicht sehen konnte. „Das regt mich so auf, Elias“ sagte sie dann oft. Anfangs war sie noch manches Mal mit ihm auf Zeitreise gegangen, aber schon bald wurde es ihr zu viel. „Ich halte das nicht aus, Elias. Bitte lass uns das Zimmer ausräumen.“ Aber Elias konnte sich nicht von seiner Maschine trennen. Deshalb hatte sich seine Frau schließlich von ihm getrennt. „Wenn du eines Morgens aufwachst und merkst, dass du das nicht mehr brauchst, dann melde dich. Vielleicht warte ich dann noch auf dich.“ Es war eine schwere Entscheidung gewesen, für beide. Aber die richtige. Seine Frau musste sich nicht mehr aufregen, Elias Wald durfte seine Zeitmaschine behalten. Sie fehlte ihm oft, vor allem abends. Aber wenn er dann auf seinem Balkon stand, eine Zigarette in den Hof hinaus rauchte, spürte er den kalten Schlüssel an seiner Brust und wusste, dass er ohne das Zimmer noch viel weniger leben konnte. Vielleicht würde er eines Tages auch eine Maschine bauen, mit der er zu seiner Frau zurück reisen konnte. Manchmal übernachtete er noch bei ihr, meistens wenn sie viel Wein getrunken hatte. Dann rief sie ihn an und fragte: „Kommst du zu mir und nimmst mich in den Arm?“ In solchen Momenten klang sie wie früher. „Ich bin gleich da.“ sagte er. Sie wusste, dass er erst in einer halben Stunde losfahren würde.


Bevor er die Straßenbahn 10 in ihre Richtung nahm, ging er stets noch einmal in das Zimmer und reiste zurück. Er nahm den Schlüssel von seinem Hals, mit einer Hand hielt er ihn fest, so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Mit der anderen Hand zog er das Lederband straff. Er steckte den Schlüssel in den Zylinder, drehte ihn zweimal nach rechts, dabei klickte es leise irgendwo hinter dem Holz. Er zog die Tür auf, mit einer Hand tastete er nach dem Lichtschalter und drückte ihn, das Licht ließ sich wie immer Zeit. Es sah alles noch so aus wie damals, sie hatten nichts verändert. Elias Wald setzte sich auf das graue Sofa mit den bunten Flecken, schaute auf die Poster an der Wand, die Stars zeigten, die längst keine mehr waren. Er strich mit der Hand über das Kopfkissen mit dem Pferdeaufdruck, zog die Bettdecke gerade, so, dass kein Staub darunter fallen konnte. Er schaltete den Kassettenrekorder an und hörte ein paar Minuten lang die letzte Folge TKKG, die seine Tochter am Abend vor ihrem Verschwinden gehört hatte. Es war Folge Nr. 125: Der Mörder aus einer anderen Zeit. In Gedanken ging er die Namen ihrer Stofftiere durch und setzte sie gerade auf ihre Stammplätze, der große Elefant ganz hinten. Auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch stand ihre Schulmappe, die fünfte Klasse hatte sie gerade geschafft gehabt. Jetzt würde sie vermutlich Abitur machen. Dann stellte er sich in die Mitte des Zimmers, so wie er es immer tat. Direkt unter die Lampe. Und schaute auf ein Paar Socken auf dem Boden, die sie achtlos am letzten Abend in die Ecke geworfen hatte. Es waren blaue Socken, unten an der Sohle waren sie sandig. Seine Zeitmaschine sprang an. Elias Wald konnte nicht mehr weinen. Dann sah er sie, wie sie auf dem Schiffsspielplatz neben der Schule mit ihrer besten Freundin gespielt hatte, am Nachmittag vorher, wie die beiden stritten darüber, wer die Meerjungfrau und wer der Seemann sein durfte, wie sie die Schuhe auszog und in Socken durch den Sand robbte. Ihre Haare hatten in der Sonne geglänzt, Elias Wald hatte auf einer Bank gesessen und sich nicht vorstellen können, jemals eine Zeitmaschine zu brauchen.


Wenn er nach einer halben Stunde die Tür hinter sich zu zog und den Schlüssel zwei Mal nach links drehte, war es jedes Mal ein wenig so, als hätte er sich ein paar Minuten zurückgeholt. Aber Elias Wald wusste, dass Zeitreisen nicht möglich waren. Der Schlüssel an seiner Brust war der Beweis.

.felix wetzel.

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