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  • AutorenbildFelix

#28 // Treptower Park



Den Reißverschluss sah Johnny zuerst. Er glitzerte anders in der Sonne, als das Wasser um ihn herum, es war etwas Schatten im Licht. Der schwarze Deckel des Koffers verschwand in kurzen Abständen in der Spree und tauchte wieder auf, dabei machte er das platschende Geräusch eines abgetrennten Entenfußes. Es war ein großer schwarzer Reisekoffer, der da am Bug der „Pankow“ trieb. Dass in der Spree Dinge auftauchten, die kein Fisch, kein Boot und keine Ente waren, daran gewöhnte man sich in Berlin. Die Spree war nicht die schnellste, aber ihr Wasser war trüb und wenn man etwas hineinwarf, dann hatte man das Gefühl, dass es weg war. Dafür hatte dann jemand flussabwärts das Problem. Hätte nicht ein neon-gelber Gürtel am Ende des Reisverschlusses aus dem Koffer heraus geschaut, Johnny hätte sich nicht länger als einen verwunderten Blick dafür interessiert. Das Leuchten aber hatte etwas Dringendes. Johnny schaute sich um, bis auf ein paar übermotivierte Fashion-Jogger war niemand außer ihm am Hafen in Treptow. Es war Montag, der Himmel verregnet und es war Vormittag, Berlin trank müde seinen Morgenkaffee. Er schwang seine Beine über eine rostige Absperrkette und hockte sich ans betonierte Ufer. Der Koffer war nur noch etwa zwei Meter vom Ufer entfernt, er bewegte sich träge auf und ab. Johnny musste an den Wolf bei den Sieben Geislein denken, dem man Steine in den Bauch genäht hatte und der dann im Brunnen ersaufen musste. Der gelbe Gürtel hing wie eine Zunge aus dem glitzernden Reisverschlussmaul. Der Koffer sah intakt aus, nicht sehr alt. Auch das Gelb war so hell, dass es noch nicht lange leuchten konnte. Ein paar Meter hinter ihm war ein Asia-Imbiss, Ban-Dung stand auf dem Schild. Hinter dem Chop-Suey-Würfel wuchsen ein paar Stadtbäume, deren Äste tief hingen. Johnny nahm sich einen großen Stock, strich die grünen Blätter ab und ging zurück zum Treibgut. Mit dem verwinkelten Ende hakte er ein und zog den Koffer langsam in Richtung Ufer. Nach ein paar Versuchen stieß der Koffer schließlich gegen die Mauer. Dann legte er sich auf den Bauch und fischte mit dem Arm nach dem schwimmenden Wolfsbauch. Der Koffer zog an ihm, Johnny hielt mit der rechten Hand dagegen, aber er hob sich nur ein Stück aus dem Wasser. Zu schwer. Mit einem Arm würde er ihn niemals heraus bekommen, die Mauer war zu hoch. Ein paar Meter weiter wurde das Ufer flacher und die Wiese begann. Johnny verhakte den Stock im Tragegriff des Koffers, stand auf und zog ihn nach drüben. Dann ging er in die Knie, beugte sich so weit es ging nach vorn, legte beide Hände an den Griff und zog den Koffer angestrengt an Land. Der Wolf war gestrandet und er war sehr schwer.


Johnny starrte auf den schwarzen Kasten, aus dem das gelbe Band heraus hing. Einmal hatte er als Kind in einem Plastikbeutel im Wald zwei tote Meerschweinchen gefunden. Jemand hatte sie in die Nähe seines Baumhauses unter einen Busch gelegt. Er war weinend nach Hause gelaufen und hatte die Nacht schlecht geträumt. Heute würden es keine Meerschweinchen sein, so viel war ihm klar. Der Reisverschluss war intakt, in einem schnellen Ruck riss er ihn um den Koffer herum auf. Mit Herzklopfen öffnete er den Deckel und sah einen weiteren Koffer. Um den Zweiten herum war der gelbe Gürtel gespannt, der gar kein Gürtel war, sondern eine Spanngurt für Transporte. In seinem Bauch flogen hektisch brennende Schmetterlinge durcheinander und fackelten sich die Flügel ab. Der innere Koffer war ein wenig kleiner und mit einem braun-weißen Camouflage-Muster bedruckt. Mit zitternden Fingern öffnete Johnny den nassen Spanngurt. Metallisch schnappte er auf, auf Johnnys Zunge bildete sich eiskaltes Aluminium. Auch der zweite Reisverschluss funktionierte tadellos, scheinbar waren die Koffer fast neu. Schon bevor er einmal herum war, sah er die Hand, die aus dem Koffer nach draußen rutschte. Sie hatte lackierte Fingernägel. Johnny kippte vor Schreck von den Füßen und bekam keine Luft mehr, sein Verstand verabschiedete sich mit einem schwarzen Feuerwerk. Im Koffer war ein Mensch. Mit dem Fuß kickte er aus sicherer Entfernung den Deckel des zweiten Koffers nach oben, in seinem Bauch bildete sich ein schwarzes Loch. Zu sehen bekam er eine kleine Frau, die zusammengerollt im Inneren lag, wie ein schlafendes blaues Kleinkind, die Beine angezogen, der Rücken krumm, vor ihrer Brust lag ein leerer Wasserkanister, den sie mit dem rechten Arm umklammerte. Johnnys Herz schwamm die Spree flussaufwärts. Er schaute sich um, aber er war allein. Langsam robbte er an den Koffer heran und betrachtete die Frau. Entgegen seiner ersten Angst war sie in einem Stück, oberflächlich betrachtet fehlte ihr nichts. Sie war etwas älter als er, trug schwarze Sportschuhe und Nietenhosen. Ihre Lippen waren blau und zwischen ihren blonden kurzen Haaren schimmerte geronnenes Rot. Johnny fühlte sich, als hätte er einen Außerirdischen gefunden. Oder als hätte ihn ein Außerirdischer gefunden. Er stuppste die Frau mit dem Stock an, dann mit dem Zeigefinger, vielleicht lebte sie ja noch. Alles andere lies sein Verstand sowieso nicht zu. Johnny schaute auf ihren Brustkorb, dann hielt er seine Hand vor ihre Nase. Er spürte einen leichten warmen Luftzug. Er zog seine Jacke aus und legte sie über ihren unterkühlten Körper. Er rüttelte an ihrer Schulter, erst vorsichtig, dann immer dringender. Sie reagierte nicht. Johnny holte sein Feuerzeug aus der Hosentasche, mit klammen Fingern versuchte er, eine Flamme hinzubekommen. Das Metallrad drehte sich langsam, der Funken sprühte, sein Daumen schmerzte. Er verstellte das kleine Plastikrad an der Vorderseite nach rechts, um mehr Gas zu in den Funken zu leiten. Das half, eine mittelgroße Flamme wuchs aus der blauen Plastik. Vorsichtig hielt er sie an die Unterseite ihrer Hand, die aus dem Koffer hing. Das zeigte Wirkung, nach ein paar Sekunden zog sie die Hand weg und schlug die Augen auf. Aus Johnnys Mund fiel stilles Entsetzen in die Wiese. Ihr Blick hatte die Farbe der Spree.


Sie hustete drei Mal, vier Mal erbärmlich, es kam von ganz tief unten. Ihre Lippen sahen aus wie eine Forelle. Die blaue Frau bewegte sich, als wäre sie von einem langen Mittagsschlaf erwacht und hätte falsch gelegen. „Mein Kopf.“ Ihre Stimme war sanft, aber von der Kälte aufgeraut, ein Metallschwamm, der an Johnnys Teflonherz kratzte. Sie streckte ihre Beine aus dem Koffer. „Mein Rücken tut weh.“ Sie drehte ihren Kopf in Johnnys Richtung, der im dreiblättrigen Klee saß. „Wo bin ich?“ Ihre Augen verloren die Orientierung und drehten sich. „Treptower Park.“ Die blaue Frau schaute an sich hinunter, ihre Füße hingen über den Kofferrand. Mit einer Hand nahm sie den leeren Wasserkanister von ihrer Brust, hielt ihn sich vors Gesicht und starrte ihn an. Dann legte sie ihn neben sich ins Gras „Kannst du mir helfen?“ Johnny verstand ihre Sprache nicht. „Hey du, wie heißt du?“ Ihre Stimme war die einer Wassernixe und sie redete, als wäre er im Koffer gewesen. „Johnny… ich bin Johnny.“ „Johnny, bitte hilf mir hier heraus.“ Er stand auf und reichte ihr seine Hand. Sie griff danach, zog sich umständlich nach oben, ihre Haut war kalt und ihr Körper machte in der Mitte einen Knick. „Meine Beine tun so weh. Wie lang war ich da drin?“ Johnnys Schultern zuckten mit dem Rest seines Körpers. Die Frau war kleiner als er, viel kleiner, sie ging ihm gerade bis zur Brust. Sie hatte ein schmales Gesicht, ihre Nase war knubbelig rund und auf ihren Wangen lagen ein paar Sommersprossen. Sie war hübsch, in einer anderen Situation hätte er ihr sicher hinterher geschaut. Ihre blauen Augen flossen langsam in Richtung Müggelsee. „Hast du mich gefunden?“ „Ja, du… der Koffer… also ich wollte gerade spazieren gehen, am Wasser und da hab ich den Koffer gesehen.“ Ihre Augenfarbe wechselte von Spree zu Himmel. „Danke Johnny.“ Humpelnd lief sie auf ihn zu, das Gras unter ihr legte sich flach auf den Boden, eine Armlänge entfernt blieb sie vor ihm stehen und schaute zu ihm hinauf. „Ich wäre da drin gestorben, wenn du mich nicht gefunden hättest.“ Mit der Hand strich sie sich durch die kurzen blonden Haare, an ihren Fingern blieb hellrotes Blut kleben. Sie hustete und verzog das Gesicht. „Wer hat dir das angetan?“ Ein unbestimmter Teil in Johnny Brust wurde warm. Die Koffernixe senkte den Kopf. Johnny folgte ihrem Blick nach unten. Ihre Schuhe waren schwarz, rote Schnürsenkel, am rechten Schuh klemmte ganz oben eine weiße Spange. Ihre Köpfe hoben sich und trafen sich wieder auf Augenhöhe. „Warum willst du das wissen?“ Die Frage kam überraschend. „Na, weil… weil das ein Verbrechen ist, weil dich jemand umbringen wollte. Oder nicht? Soll ich einen Krankenwagen rufen?“ Die Koffernixe schwieg und schaute ihn an. Dann sagte sie: „Schon gut. Bringst du mich nach Hause? Und darf ich deine Jacke anbehalten? Mir ist kalt.“


„Lass uns vor zur Straße gehen. Ich rufe uns ein Taxi.“ Johnny drehte den Kopf in Richtung der 96 und suchte nach einem gelben leuchtenden Schild auf dem Dach eines Autos. „Nein, bitte kein Taxi. Lass uns S-Bahn fahren, es ist nur eine Station.“ Johnny schaute die Nixe verständnislos an. „Bitte! Es ist okay.“ Also liefen sie los in Richtung S-Bahnhof, die Koffer zog Johnny in ein Gebüsch, als ob er sie noch einmal brauchen könnte. Er lief links, sie rechts neben ihm. Ihre Schuhe hinterließen auf den ersten Metern nasse Abdrücke auf dem Asphalt, aber mit jedem Schritt wurden sie schwächer. Seine Jacke war ihr zu groß und hing ihr bis über die Knie. „Wir nehmen die 42. Hast du ein Ticket?“ Johnny nickte. Die Ringbahn kam schnell und sie stiegen ein. „Bis Ostkreuz. Dann sind es nur noch ein paar Schritte.“ Johnny hielt sich an einer Stange fest. Die Nixe lehnte an der Tür und hatte die Augen geschlossen. Ihre Kleidung klebte unter seiner Jacke klamm an ihrem Körper, man sah die Konturen ihrer Rippen, ihrer Brüste und ihrer Hüftknochen. Es lies sie dünn und zerbrechlich aussehen. „Na ihr Spinner, wart ihr in der Spree baden, wa?“ Johnny schaute den Mann mit der großen Sonnenbrille an. Der blickte abwechselnd zwischen ihm und Nixe hin und her. Er war sichtlich stolz über seinen Spruch. „Früher hätte euch die Chemie in der alten Dame sofort die Beene abjefressen.“ Johnny nickte, Neles Augen blieben geschlossen. Die Bahn hielt am Ostkreuz, die Türen gingen auf. Nele lief vorneweg, Johnny hinterher. Der Mann mit der Sonnenbrille blieb zurück, schaute ihnen aus der Tür hinterher und lachte dreckig.


Zielstrebig lief Nele auf den Nordausgang zu, Johnnys Jacke machte Wellen an ihrem Rücken. Hinter dem S-Bahnhof begann Friedrichshain, sie liefen still nebeneinander, nur die Ärmel der Jacke scheuerten aneinander und raschelten. „Es ist nicht weit, da vorn links und dann rechts, dann sind wir schon da.“ „Okay. Geht’s dir soweit gut?“ Johnny fühlte sich wie ein Schulanfänger, der in der ersten Stunde Mathe eine Frage stellte, deren Antwort er nicht verstehen würde. „Ich bin okay Johnny, Danke.“ Sie bogen um die erste Häuserecke. „Zeigst du ihn an?“ Die Nixe schaute verwundert hoch in Johnnys besorgte Augen. „Na den Typen. Es war doch ein Typ, oder?“ Sie schwieg und schaute zu Boden. „Du wirst den Typen doch anzeigen, oder?“ Sie hob den Kopf. „Ja, es war ein Typ.“ „Wie heißt er? Ich sag für dich aus, ich mein ich bin ja der einzige Zeuge und…“ „Ich möchte jetzt einfach nur eine warme Dusche und in mein Bett Johnny. Kannst du das verstehen?“ Sie hatte es liebevoll gesagt, wieder so, als hätte sie ihn gerettet. Sie bogen um die zweite Häuserecke, ein paar Passanten kamen ihnen lachend entgegen und verstummten für einen Moment, als sie an ihnen vorbei liefen. „Hier wohne ich.“ Johnny fiel aus seinen Gedanken auf den Bordstein. Sie standen vor einem Haus mit weißer Fassade, eine schwere Holztür, eine Hausnummer auf der Lampe, ein paar Tags an der Wand. Sie standen voreinander, so wie vorhin am Wasser. Ihre Haare waren fast getrocknet und lockten sich an den Seiten ein wenig. „Danke Johnny. Ich werde dir das nie vergessen.“ Sie nahm seine Hand und drückte sie leicht. An ihrem Ringfinger trug sie ein goldenes Herz, es drückte kühl auf Johnnys Haut. „Wie heißt du überhaupt? Ich weiß nicht mal, wie du heißt.“ Johnny merkte, wie er flehte. „Ist schon gut.“ Es war nicht auszuhalten. „Versprich mir, dass du morgen zur Polizei gehst und den anzeigst. Ich helfe dir auch, ich komm mit, ich gebe dir meine Nummer.“ Johnny kramte sein Telefon aus der Tasche, die Nixe aber drückte seinen Arm sanft nach unten. „Ist schon gut, Johnny. Danke. Danke!“ Sie drehte sich um und klingelte oben rechts. Der Türsummer ging, sie drückte die Tür mit beiden Händen auf, sie schien schwer zu sein. Johnny konnte es nicht fassen. „Aber, das geht doch nicht. Was ist mit der Gerechtigkeit?“ Johnnys Stimme war klamm vom kalten Spreewasser und fiel ihr nasskalt in den Nacken. Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren wieder die Spree. „Gerechtigkeit…“ Sie drehte das Wort in ihrem Mund herum und konnte nichts damit anfangen. „Ist schon gut, ist schon gut. Es wird gut.


Ich werde weggehen.“ Dann hob sie ihre rechte Hand und verschwand im dunklen Hausflur. Johnny stand da und starrte auf die schwere Holztür, die langsam und knarrend ins Schloss fiel. Johnny wurde kalt, er bekam eine Gänsehaut. Sie hatte noch seine Jacke. Im Haus war das Licht angegangen, er konnte es durch die kleinen Fenster in der Holztür sehen. Er wartete einen Augenblick und klingelte dann oben rechts. Einmal, zweimal, dann knackte es im Lautsprecher. „Ja?“ Es war eine Frauenstimme. „Du hast noch meine Jacke.“ Es knackte wieder. Johnny klingelte erneut, aber niemand antwortete. Er trat einen Schritt zurück und starrte auf die verschlossene Tür. Hinter ihm fiel etwas auf den Boden. Es war seine Jacke. Er schaute nach oben, aber kein Fenster war offen.


Johnny lief langsam zurück in Richtung Ostkreuz. Er suchte in seiner Tasche nach Zigaretten. Als er die Schachtel herauszog, fielen Tabakkrümel und ein Zettel auf den Boden. Er hob ihn auf, mit blauem Kugelschreiber war etwas hektisch darauf gekritzelt. „Lass uns bitte so tun, als wäre das nie passiert.“ stand da. Johnny zündete sich eine Zigarette an und wartete an einer roten Ampel. Ein Polizeiauto stand gegenüber an der Kreuzung und wartete ebenfalls. Die beiden Polizisten unterhielten sich, einer lachte. Für einen Moment wollte er hinlaufen und ihnen alles erzählen. Das Fenster des Streifenwagens stand einen Spalt breit offen, er hätte es sogar über die Straße rufen können. Dann wurde es grün und die Streife bog langsam um die Ecke. Johnny ließ sie fahren, faltete den Zettel zusammen, steckte ihn in seine Jackentasche und ging über die Straße. Gerechtigkeit war eben nur ein Wort. Und im Treptower Park startete die „Pankow“ der Stern und Kreis in Richtung Müggelsee.  


 .felix wetzel.

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