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  • AutorenbildFelix

27 // Schneebeeren



Noch vier Sekunden, noch drei, noch zwei. Herr Jacobi zählte in Gedanken den Countdown herunter. Der Funkwecker auf seinem Tisch ging sehr genau, er vertraute ihm ohne jeden Zweifel. Im Geschäft hatten sie gesagt, dass der Wecker sich wie die großen Bahnhofsuhren jede Minute selbst korrigieren würde. Als der Sekundenzähler im Display von Null auf Eins umsprang, zischte es ein wenig zwischen seinen Zähnen. Die Auktion war beendet. Ebay gratulierte ihm zum Erwerb des Buches „Herbstblond“, der Biografie von Thomas Gottschalk. Ein enttäuschter Käufer hatte es für den Startpreis von einem Euro eingestellt. Herr Jacobi hatte es für 2,50 Euro bekommen. Er lehnte sich zufrieden zurück. In zwei bis drei Tagen sollte es da sein. Bis dahin liefen noch sechzehn weitere Auktionen, es konnte eine erfolgreiche Woche werden.  


Herr Jacobi stand aus seinem Bürostuhl auf und ging zum Fenster. Die Jalousien waren herunter gelassen, aber er hatte sie geöffnet, so dass die Sonne in warme Streifen geschnitten wurde. Die schmalen Schatten ergaben in Kombination mit dem Teppichmuster ein Gitter auf dem Boden. Mit den Spitzen seiner Hausschuhe versuchte Herr Jacobi, nur in die hellen Zwischenräume zu treten. Draußen lag die Siedlung im Sommerschlaf, etwas Wind verirrte sich in die große Eiche gegenüber von Jacobis Haus, ein gelbes Auto fuhr zu schnell die kleine Straße hinab. Ein haltloser Punkt zwischen der hohen Eiche und den flachen Garagen daneben fing seinen Blick, Herr Jacobi starrte ein kleines schwarzes Loch in die Siedlung. An einem Tag wie diesem liebte er sein ruhiges Leben, so hatte er es gewollt und leise gedreht. Nur manchmal, da träumte er davon, seine Geschichte neu schreiben zu können. Seine jetzige würde vermutlich niemand kaufen, vielleicht gerade noch seine Frau, Höchstgebot zweifünfzig. Vom Schreibtisch her machte es Pling, er hatte eine E-Mail bekommen. Jacobi ging zurück zum Tisch und setzte sich in seinen Bürostuhl, an dessen Lehne das Leder schon dünn wurde. „Druide71 hat Ihr Angebot für ‚Der geschenkte Gaul – Bericht aus einem Leben’ überboten. Bieten Sie jetzt neu!“ Das war die Biografie von Hildegard Knef. Mit ein paar Klicks war die Sache erledigt, einsfünfzig drüber sollte genügen für diese alte Ausgabe. Diesen Druide71 kannte Herr Jacobi schon, er duellierte sich oft mit ihm um seine Bücher. Er hatte schon ein paar Mal überlegt, ob Druide71 wohl das gleiche Hobby wie er hatte. Aber das konnte er sich nicht vorstellen.


Es klopfte an der Tür. „Ja bitte?“ Herr Jacobi wusste, dass es nur seine Frau sein konnte. Es ging ihm darum, eine gewisse Ordnung zu wahren. „Kann ich reinkommen, Jakob?“ Herr Jacobi drückte auf den Knopf seines Monitors, mit einem leisen „Klick“ schaltete er sich aus und wurde schwarz. „Bitte!“ Seine Frau öffnete die Tür und trat zwei Schritte in den Raum, weiter traute sie sich nie in sein Arbeitszimmer hinein. „Ich habe etwas zu Essen gemacht, in zehn Minuten ist es fertig.“ Durch den Türspalt zog der Geruch einer Speisegaststätte herein. „Was gibt es denn?“ „Ich hab uns Kohlrouladen gemacht.“ „Ja, ich komme gleich. Muss nur noch kurz etwas erledigen.“ Seine Frau blieb für eine Sekunde unschlüssig stehen, sie schaute auf den dunklen Monitor hinter ihm und auf den Rechner unter dem Tisch, der hektisch blinkte. „Ach, und du hast ein Paket bekommen. Ich hab es hier oben in den Flur gelegt.“ Dann lächelte sie und drehte sich um. Herr Jacobi liebte es, dass sie die Türen immer leise schloss. Er wartete einen Augenblick, bis die Schritte seiner Frau ihm sagten, dass sie im unteren Teil des Hauses angekommen war. Dann stand er auf, öffnete vorsichtig die Tür und trat hinaus in den Flur. Er lief auf den Zehenspitzen, damit seine Frau unten nicht hörte, dass er das Paket sofort holte. Die Flurgarderobe war so breit und der Flur so schmal, dass man vorsichtig sein musste, wenn man daran vorbei ging. Sonst riss man jedes Mal eine Jacke oder einen Hut herunter. Das Paket lag oben auf der Kommode. Das weiße Spitzendeckchen darunter war verrutscht und hing zur Hälfte an der Seite herunter. Herr Jacobi nahm das Paket, rückte den weißen Stoff zurecht und ging zurück in sein Arbeitszimmer. Die Tür lehnte er nur an.


Das Paket kam aus Bremen, die Handschrift auf dem Adressaufkleber war krakelig und fast nicht zu entziffern. Es war flach und fast komplett mit Paketklebeband umwickelt. Herr Jacobi nahm eine Schere von seinem Schreibtisch und ritzte es an den Seiten auf. Als er den Deckel aufklappte, blickt ihn ein Gesicht an: Es war „Maschine – Dieter Birr“, die Biografie des Sängers und Gitarristen der Puhdys. Das war seine Lieblingsband gewesen, früher zu Ostzeiten. Er wollte auch immer schon so einen guten Spitznamen haben. „Maschine“, das klang nach einem, der ruhig und kontinuierlich seinen Weg ging und den niemand aufhalten konnte. Jacobi strich mit der Hand über die Vorderseite des Buches, es war fast neu und fühlte sich noch fest und voll an. Je älter Bücher wurden, desto mehr hatte er das Gefühl, dass nicht mehr viel in ihnen drin war. Sie fühlten sich weich an, als würde der Sinn von den Seiten fallen. Herr Jacobi klemmte Dieter Birr unter den Arm und ging zu seinem Schrank. Es war ein großer dunkler Eichenschrank, den er von seiner Großtante geerbt hatte. In beiden Türen befanden sich vier kleine Bleiglasfenster, die Metallgriffe waren mit den Jahren schwarz angelaufen. Er öffnete die rechte Tür und schob seine Hemden an der Stange mit der freien Hand beiseite. Dahinter war ein kleines Fach, ein Schranksafe, den er nachträglich hatte einbauen lassen. 1-9-5-6 stellte er ein. Es war das Geburtsjahr seiner Frau. Herr Jacobi hatte die Kombination gewählt, weil sie sie leicht erraten konnte, sollte ihm einmal etwas zustoßen. Solang er lebte würde sie niemals an den Safe gehen, das wusste er, aber Ordnung musste sein. Das Zahlenschloss klickte und die kleine Eisentür öffnete sich. Der Schlüssel, den er suchte, lag auf einem weißen Briefumschlag, seinem Testament. Er war nicht größer als ein Wohnungsschlüssel, hatte einen runden oberen Teil und einen kleinen Bart. Herr Jacobi hatte zur besseren Unterscheidung einen orangenen Ring daran befestigt. Er nahm den Schlüssel heraus, das Testament verrutschte etwas nach links, Herr Jacobi korrigierte den Fehler und schloss die Safetür. Dann ordnete er seine Hemden und schloss auch den Schrank. Der Türspalt zum Flur war noch genau so breit wie vorhin, sie hatte ihn also nicht heimlich beobachtet, während er mit dem Kopf im Schrank gesteckt hatte. Auf Zehenspitzen lief er die Holztreppe ins Erdgeschoss hinunter. Vor allem die letzte Stufe war die tückischste, egal ob man mit dem Fuß an ihrem Rand auftrat oder in der Mitte, das Holz lies sich seinen Schritt stets lautstark anmerken. Er hielt sich mit der rechten Hand am Geländer fest und überstieg die letzte Stufe. Gerade als er seinen Fuß geräuschlos auf die weißen Fliesen aufsetzte, knarrte das Geländer.


Herr Jacobi erstarrte mitten in der Bewegung, mit dem linken Oberarm drückte er fest gegen das Buch, das an seinem Körper klemmte. Er lauschte, aber kein Geräusch veränderte sich im Haus. In der Küche klapperten die Teller und an der Wand tickte eine Kuckucksuhr. Sie hatte nichts bemerkt. Sie bemerkte nie etwas. Herr Jacobi ging den Flur entlang und dann die Kellertreppe hinunter, lief fünf Schritte geradeaus durch die Dunkelheit, bog dann rechts um eine Ziegelmauer, wieder fünf Schritte geradeaus, dann links vorbei am Trockner und die kleine Treppe hoch in den Garten. Er hatte den Weg durch den Keller auswendig gelernt, damit er das Licht nicht anmachen musste. Die Tür nach draußen war unverschlossen, als er sie öffnete musste er ein paar Sekunden warten, bis sich seine Augen an die Sonne gewöhnt hatten. Schön sah es hier aus, friedlich. Er mochte seinen Garten, vor allem den Flieder und seinen Kirschbaum. Links neben der Kirsche legte er gerade am Grundstück zum Nachbarn eine große Hecke an, Schneebeeren, die Pflanzen hatte er letzte Woche in den Boden gesetzt, die frische Erde machte ein dunkles Loch in das Licht der Mittagssonne. Etwas hellen Rindenmulch hatte er bereits ausgestreut, aber es fehlten noch vier bis fünf Säcke, um den Boden unter der Hecke völlig zu bedecken. Seine Frau hatte ihn gefragt, warum er die Erdbeerbeete und den Stachelbeerstrauch für die Schneebeeren geopfert hatte. „Es kann nichts Neues entstehen, wo schon etwas wächst.“, hatte er gesagt. Damit war sie zufrieden gewesen, etwas traurig geschaut hatte sie dabei aber doch.


Herr Jacobi lief über die Wiese, am Kirschbaum vorbei, überall waren Gänseblümchen und Löwenzahn empor geschossen, man würde seine Fußabdrücke sehen. Die Tür zum Schuppen war mit einem dicken Vorhängeschloss gesichert, das hatte er im Frühling angeschafft. Seiner Frau erzählte er, dass es wegen der teuren Gartengeräte da hing. Das Schloss hakte etwas, Sekunden, in denen Herr Jacobi Angst hatte, dass ihn jemand sehen konnte. Die Küchenfenster führten zwar nach vorn zur Straße hinaus, aber manchmal ging seine Frau während die Kartoffeln kochten ins Badezimmer, von dort aus konnte man fast den ganzen Garten überblicken. Als das Schloss sich klackend öffnete, schlüpfte Herr Jacobi durch den Türspalt nach innen und zog die Holztür hinter sich zu. Es roch nach Sommerschatten hier drin und ganz dezent nach Fäule, sicher lag irgendwo unter einem der Regale ein Apfel vom letzten Herbst, der langsam verrottete. Herr Jacobi nahm das Buch unter seinem Arm hervor und legte es auf seine Werkbank. Dieter Birr grinste ihn vom Cover an, alt war er geworden, aber dafür konnte er ja nichts. Das Buch hatte kein Hardcover, deshalb würde es dieses Mal schnell gehen. Auch wenn er die Puhdys immer gemocht hatte, er musste mit der Geschichte des Musikers tun, was er mit jeder Geschichte tat, die er ersteigerte. Herr Jacobi nahm von der Leiste über seiner Werkbank eine Säge. Mit der rechten Hand hielt er das Buch fest und sägte mit der linken einmal quer durch Dieter Birrs Gesicht hindurch. Das Papier riss an einigen Stellen ein, aber da er so fest mit der Hand auf das Buch drückte und damit das Papier komprimierte, bekam er es fast in einem Schnitt durch, als wäre es ein Stück Holz. Sein Lieblingsmoment, er bildete sich ein, dass in diesem Augenblick ein leichter goldener Schimmer über dem Buch hing, jedes Mal. Die Augen von Dieter Birr guckten jetzt ohne den Mund und der Mund lächelte ohne die Augen. Es machte schon Sinn, dass das zusammen gehörte, dachte Herr Jacobi. Dann drehte er das Buch und sägte die beiden neu entstandenen Teile ebenfalls durch. Den Vorgang wiederholte er noch einmal, bis er mit der feinen Säge das Papier nicht mehr fassen konnte. Dann nahm er die Gartenschere, mit der seine Frau sonst die Rosen kürzte, und schnitt so lange daran herum, bis es nur noch Schnipsel waren. Nicht mal die Augen von Dieter oder den grinsenden Mund konnte man jetzt noch erkennen. Herr Jacobi bekam wie immer an diesem Punkt ein schlechtes Gewissen. Dass er die Geschichte zersägte, tat ihm leid. Aber es musste sein, es musste getan werden. Mit einem Handbesen fegte er die Papierschnipsel vom Tisch in einen großen Metalleimer, der bereits voller Schnipsel war. Dann ging er hinüber zum Rindenmulch, den er in einem Plastiksack aufbewahrte. Er schüttete den Eimer mit dem Papier in den Mulch, packte den Sack an beiden Händen und schüttelte ihn ordentlich durch. Als er fertig war, nahm er ein Stück Kreide aus einer Schublade und machte einen Strich an die Holzwand hinter der Werkbank. Nummer 46.


Dann griff sich Herr Jacobi den vollen Sack mit dem Rindenmulch und ging nach draußen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie seine Frau am Fenster im Badezimmer stand und in seine Richtung schaute. Herr Jacobis Herz sprang über die Schneebeerenhecke. Er tat so, als ob er sie nicht bemerkte und ging mit langen ruhigen Schritten hin zur frischen Erde. Schön sahen die jungen Pflanzen aus, sie hatten saftige grüne Blätter aber das Holz war noch dünn. Er öffnete den Sack und schüttete den Mulch um die Hecke herum. Die kleinen weißen Papierstücke zwischen den braunen Rindenstreifen reflektierten die Sonne, für einen Moment erinnerte sich Herr Jacobi an eine Dokumentation über Goldschürfer, die er einmal gesehen hatte. An den Moment, wenn beim Waschen zwischen dem Dreck plötzlich etwas glitzerte. Als der Sack leer war, blickte Herr Jacobi zufrieden auf sein Werk. Er musste an Druide71 denken und was er wohl mit dem Buch gemacht hätte Vermutlich hätte er die Geschichte gelesen, das hatte Jacobi nun verhindert. Wieder eine Geschichte weniger, die ihn kleiner machte. Und seine Pflanzen größer. Seine Frau drehte sich vom Fenster weg und ging zurück in die Küche. Herr Jacobi freute sich jetzt sehr auf die Kohlrouladen. Er brachte den leeren Sack zurück in den Schuppen, räumte Säge und Schere an ihren Platz, ging ins Haus, wusch sich die Hände und setzte sich an den Tisch zu seiner Frau. Die Kohlrouladen sahen köstlich aus, sie lagen in einer braunen Mehlschwitze, die das Gelb der dampfenden Kartoffeln leicht golden leuchten ließen. Sie begannen zu essen, Herr Jacobi lächelte seine volle Gabel an und genoss die Wärme in seinem Bauch. „Kommen die Schneebeeren gut zurecht?“ Er schaute seine Frau an, die noch keinen Bissen gegessen hatte. „Ja, der Mulch tut ihnen gut.“ Jacobi schaute peinlich berührt auf seine Hausschuhe unter dem Tisch. „Hauptsache es tut dir gut, Jakob.“ sagte seine Frau und schnitt ihre Roulade in zwei Teile. Herr Jacobi musste an Dieter Birr denken und an dessen geteiltes Gesicht. Dann schluckte er zufrieden seinen Neid mit etwas Soße herunter. Im Garten schwitzten derweil die Schneebeeren.


.felix wetzel.

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