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  • AutorenbildFelix

#25 // OP



Die Schaufel in seinem Rucksack drückte bei jedem Schritt dumpf gegen Johnnys Rücken. Aber es war nicht mehr weit, nur noch einmal rechts, den schmalen Trampelpfad am Urnenfeld II vorbei und dann noch einmal links an der Hecke entlang. Obwohl es stockdunkel war, fand er sich gut zurecht. Bei seinem letzten Versuch vor einer Woche war er noch ohne Schaufel hergekommen, in der festen Annahme, dass sich schon eine auf dem Gelände des Friedhofs finden würde. Wo wenn nicht hier würden Schaufeln gebraucht. Aber kein Schuppen war offen gewesen und niemand hatte eine herum liegen lassen. Heute war er besser vorbereitet: Er hatte eine Schaufel im Baumarkt gekauft, eine Taschenlampe dazu und das Foto steckte in seiner Jackentasche. Johnny hatte als Kind immer Angst vor Friedhöfen gehabt, wegen den Geistern. Aber das war lange her, mittlerweile ging er absichtlich dorthin, wenn er mal seinen Geist entspannen wollte oder das Gefühl brauchte, dass es okay war, mit niemandem zu reden. Die Toten machten ihm keine Angst mehr, im Gegenteil, er hatte mit einem von ihnen noch eine Rechnung offen.


Unter seinen Schuhen knirschte der Kies, in den Bäumen über ihm rauschte dunkles Blut. Johnny hatte es eilig, die Lebenden hatten es immer eilig, die Zeit hatte lange Beine. Ein paar Meter weiter vor ihm stand etwas auf dem Weg, es war flach, eckig, etwas heller als Schwarz. Johnny fiel ein Herzschlag aus. Mit der Taschenlampe leuchtete er die Dunkelheit an. Es war eine Schubkarre mit einem großen Haufen Erde darin. Er ging näher heran, der Lichtkegel fiel in ein frisch ausgehobenes Grab ein paar Schritte weiter. Es war noch nicht fertig, nur etwa einen Meter tief. Auf dem weichen Boden daneben hatte sich Regenwasser in den Baggerspuren gesammelt. Für wen das wohl war? Machten sie die Gräber nur bei Bedarf? Oder arbeitete der Friedhofsgärtner auch mal vor, zum Beispiel vor seinem Urlaub? Johnny machte die Lampe aus und wollte weiter gehen, als er mit dem Fuß an einen Gegenstand stieß. Er leuchtete mit der Taschenlampe vor seine Füße: Es war eine Schaufel.

Das Grab seines Vaters lag in einer Art Seitenflügel des Geländes, das passte sich gut in sein Leben ein. Er hatte seinen Vater nur am Rande der Zeit kennengelernt und da lag er jetzt auch für alle Zeit. Er war seit acht Jahren tot, seit 26 Jahren war er ihm egal und seit einer Woche kannte er dieses Foto. Auf dem Bild war Johnny als Baby zu sehen, nicht älter als sechs Monate, gehalten von einem jungen schnauzbärtigen Mann. Beide schauten in die Kamera und Johnny fand, dass er recht zufrieden aussah, während das Gesicht seines Vaters unentschlossen in seine Einzelteile zerfiel. Das Bild war bei einer Aufräumaktion aufgetaucht, in einem alten Buch, das er von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte. Johnny hatte das kleine schwarz-weiße Rechteck eine Weile angestarrt, es weggelegt, es wieder angestarrt und war dann sehr wütend geworden. Bisher hatte er immer vermutet, dass sein Vater ihn nach seiner Geburt nie wirklich gesehen hatte, nie auf dem Arm gehalten. Das war in gewisser Weise ein Trost für ihn gewesen, etwas dass man nicht kannte, konnte man auch nicht absichtlich verletzen. Aber jetzt hatte er den Beweis, dass seine Hände ihn berührt hatten, rechts und links an der Hüfte. Johnny glaubte die Druckstellen noch zu spüren, sogar jetzt hier in diesem Moment. Er musste wissen, wieso er ihn trotzdem allein gelassen hatte, er musste ihn fragen. Deshalb war er hier.


Er fand den Grabstein schnell. Mit der Lampe leuchtete er auf die goldene Inschrift, der Name seine Vaters glitzerte. Johnny hatte das Bedürfnis, ihn mit einem Messer heraus zu kratzen. Er legte die Taschenlampe auf den Boden, setzte seinen Rucksack ab und holte die Schaufel heraus. Wie tief so ein Sarg wohl lag? Er nahm seine Arbeitshandschuhe aus der Jackentasche, zog sie über seine zitternden Hände und stieß die Schaufel in die Erde. Dieses Geräusch, wenn das schmale Metall nach unten in die dunkle Unbeschwertheit der Verwesung fuhr, ein metallisches Zischen. Johnny kippte die Schaufel an und hob etwas Erde nach oben. Sie fühlte sich schwer an, seine Muskeln spannten sich unter der Jacke. Mit einem großen Schwung warf er sie zur Seite weg. Im Gebüsch hörte man ein paar erschrockene Ratten mit ihren nackten Schwänzen klatschen. Johnny kam schnell voran, obwohl die Schaufel nicht sehr groß war, seine Wut hob locker ein paar Kilo mit. Er machte ein Spiel für sich daraus, um sich zu beruhigen: Wenn er die Schaufel in die Erde stieß, atmete er aus, wenn er die Schaufel anhob, holte er Luft, wenn er die Erde zur Seite schmiss überlegte er sich seine Frage.


Schon bald stieß er auf das verrottete Holz des Sarges. Es hatte einen dumpfen Kontakt zwischen Schaufel und Vater gegeben, nicht so klar wie in den Filmen, wenn die Piraten die Schatztruhe fanden, sondern dreckig, nass und ohne Hoffnung. Der Kopf der Leichen lag stets zum Grabstein hin, Johnny musste also nicht den gesamten Sarg freilegen, sondern nur den oberen Bereich. Eine Frage stellte man ja den Leuten am besten direkt ins Gesicht. Da sein Vater nie eines besessen hatte, war es Johnny auch egal, wie es jetzt nach all der Zeit in der Erde aussah. Hauptsache er hörte ihm zu. Als er den größten Teil des Kopfbereiches freigelegt hatte, machte er eine Pause. Er setzte sich neben den verwelkten Blumenstrauß des Nachbarsgrabes, holte aus seinem Rucksack das Brecheisen, eine Zigarette und das Foto. Während er rauchte, starrte er das Bild an. Beim Betrachten von alten Fotos auf denen er zu sehen war, schaffte Johnny es nie ganz, den Bezug zu seinem eigenen Leben herzustellen. Er blieb sich selbst immer fremd, als wäre der erstarrte Johnny auf dem Bild ein anderer. Ein Verräter, der sich getraut hatte, vor ihm da zu sein und etwas zu erleben, das er nie wieder erleben konnte. Der Chancen verstreichen und ihm heute nur die Konsequenzen seiner Fehler übrig ließ. Bei diesem Bild war das anders. Er schaute es an und spürte die großen Hände seines Vaters an seinen Hüften, er spürte das Kratzen seines Schnurrbartes an der Wange, er fühlte die Unsicherheit in den grauen Augen auf sich. Jetzt wusste er auch seine Frage. „Was habe ich falsch gemacht?“


Johnny atmete den letzten Zug der Zigarette tief in sein Herz und schnippte die Kippe in einem hohen Bogen ins Gebüsch. Eine brennende Motte auf der Suche nach einem Platz für den finalen Absturz. Das freigelegte Stück des Sarges in der aufgewühlten Erde erinnerte ihn an eine Operation am offenen Herzen. Das grüne Tuch mit dem Loch in der Mitte, rote Flecken an den Rändern, das zuckende Stück Fleisch mit den gelben Fetträndern im Zentrum, daneben ein Arzt mit zitternden Händen und einem scharfen Stück Metall in der Hand. Johnny nahm das Brecheisen, setzte es an der Seitenkante des Sarges an, holte tief Luft und stemmte sich dagegen. Das morsche Holz gab schnell nach, viel zu schnell. Johnny rutschte vom Eisen ab, verlor das Gleichgewicht und fiel kopfüber in das Loch hinein. Der Aufprall war weich, die Erde hier wusste, wie man mit Körpern umgehen musste. Als er die Augen öffnete, lag er in der Hüfte verdreht direkt auf dem Sarg. Seine Knie waren in das Holz eingedrungen, ein paar Zentimeter vor seinen Augen war es gesplittert, wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, hätte er hineinsehen können. Johnny drückte sich hoch, kroch aus dem Loch, holte die Taschenlampe, klemmte das Licht zwischen seine Zähne, sprang wieder hinein und drückte schließlich den oberen Teil des Sarges auf. Die welke Vergangenheit floss in die Breite.


Der Sarg war leer. Johnny hämmerte mit dem Brecheisen das Loch größer, so groß wie das Loch, das er gegraben hatte. Aber er fand nichts, nicht mal einen Knochen. Der ehemals weiße Stoff, mit dem der Sarg innen ausgekleidet war, erinnerte Johnny an seine Haut im Winter. Ihm blieb die Luft weg vor Anstrengung. Er setzte sich an den Rand des Grabes, zündete sich eine Zigarette an und atmete blau. Neben ihm lagen die Schaufel und das Foto, aus Versehen hatte er sich auf den verwelkten Blumenstraußes des Nachbarn gesetzt. Der bunte Tod knisterte um Vergebung. Johnny war enttäuscht. Aber weniger darüber, dass sein Vater nicht im Sarg lag, sondern dass er wirklich geglaubt hatte, dass er diesmal da sein würde. Die Zigarette knisterte, die Taschenlampe verlor allmählich ihren Saft und flackerte ein paar Schatten. Er rauchte auf, nahm das Foto zwischen die dreckigen Finger und stand auf. Dann schmiss er es in den leeren Sarg und griff sich die Schaufel. Die Batterien der Taschenlampe gaben ihren Geist auf, in den Büschen lachten sich die Ratten tot. Johnny ging derweil ruhig seiner Arbeit nach, unter seinen Augen spiegelte sich ein Rest Mondlicht. Wenn er die Schaufel in die Erde stieß, atmete er aus, wenn er sie anhob holte er Luft, wenn er die Erde in das Loch warf ließ der Schmerz langsam nach.


.felix wetzel.

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