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  • AutorenbildFelix

#24 // Am Rand



I

Das Ostkreuz ist voller Menschen, fast schon überfüllt für diese Tageszeit. Die Mittagssonne scheint trübe durch die dreckigen Glasscheiben im Dach, das fleckige Blau des Himmels wartet darauf, dass jemand die Scheiben putzt. In der Luft liegt der typische Bahnhofsgeruch eines frühen Sommers, ein paar Grad mehr und man würde sich wegen des Menschendampfes die Nase zuhalten. Ich warte auf die S41, die Ringbahn, die im Uhrzeigersinn fährt. Drüben auf der anderen Seite fährt die S42, entgegengesetzt. Ich stütze mich mit den Unterarmen auf das Metallgeländer und blicke auf das Gleis unter unserem. Die Sonne macht einen schrägen Schatten auf dem Bahnsteig und teilt ihn in hell und dunkel. Auch hier rennen Menschen durcheinander, rennen sich über den Haufen und werfen sich genervte Blicke zu. Ich kann von oben sehen, wer eine Halbglatze bekommt. Mir fällt auf, dass sie alle einen kleinen Bogen laufen um etwas, das im Schatten steht und das ich nicht richtig erkennen kann. Also gehe ich ein paar Schritte zur Seite, um besser sehen zu können.


Es ist eine Bank, auf der sitzt ein Mann. Vermutlich ist er um die 50, er ist fast nackt, nur bekleidet mit einem weißen Unterhemd und einer Unterhose. Seine Haare sind lang, leicht grau und fallen bis auf seine Schultern. Er trägt Sandalen, ich kann seine schwarzen Stadtfüße sehen. Auf seiner Brust ist irgendeine Art von Tätowierung, die unter dem Hemd hervorschaut, wie eine Warnung. Vielleicht ein Drachen. Er hat einen struppigen Bart und er raucht. Ich überlege, wo er wohl sein Feuerzeug aufbewahrt. Der Mann sitzt ganz aufrecht da, sein Rücken ist ein gerader Strich und ich kann sehen, wie sich sein Brustkorb langsam hebt und senkt. Eine Familie mit zwei Kindern läuft an ihm vorbei, die Kinder wollen stehen bleiben und den Mann anschauen. Aber ihre Eltern nehmen sie schnell an die Hand und schleifen sie weiter. Der Mann dreht leicht den Kopf und blickt der Familie nach. Als sie außerhalb seines Blickfeldes sind holt er unter der Bank eine Bierflasche hervor und trinkt einen Schluck.


Etwas Staub wirbelt durch die Sonne, mit dem Handrücken wischt er sich den Mund ab und stellt die Flasche mit einer vorsichtigen Bewegung wieder unter die Bank. Hinter mir fährt eine S-Bahn ein. Ich drehe mich um, die Menschen treten nach vorn auf die weiße Linie. Ein Mann richtet sich in der Spiegelung der Tür die Frisur, eine Föhnlocke, die wippt, wenn er läuft. Die Bahn surrt, so wie sie nur in Berlin surrt, und die Menschen drängeln heraus und hinein. Ich bleibe stehen und schaue einer Frau dabei zu, wie sie schnell in den Wagon laufen möchte, aber von einem großem Mann, der aussteigen möchte, mit dem Ellenbogen daran gehindert wird. Die Frau schaut innerlich verletzt dem Mann nach, eine Touristengruppe schnappt sich derweil ihren Platz. Das Türschließgeräusch ertönt, eine rote Lampe leuchtet auf und ich lasse die Bahn fahren. Mit dem Uhrzeigersinn. Als ich mich wieder umdrehe, legte dem Mann unten ein junges Mädchen gerade ein Geldstück auf die Bank. Er nickt freundlich, das Mädchen lächelt flüchtend und jeder geht zurück in seine Welt. Das Metall des Geländers, auf das ich mich lehne, ist kalt. Zwei Jungen, vielleicht gerade alt genug fürs Küssen, stellen sich neben mich und machen Fotos mit ihren Telefonen vom Mann auf der Bank unter uns. Sie lachen und laden das Bild irgendwo hoch. Dann spucken sie nach unten und laufen lachend weg. Die Spuckefladen klatschen neben den Füßen des Mannes auf den Boden. Sein Kopf hebt sich und er schaut mich an. Ich möchte ihm sagen, dass ich es nicht war, aber ich kann nichts für ihn tun. Er nickt und dreht den Kopf zurück in den freien Raum vor ihm. Die nächste Bahn fährt ein, die nehme ich. Im Uhrzeigersinn.


II

In der Ringbahn riecht es komisch. Als ich eingestiegen bin, habe ich nicht aufegpasst. Ich stehe im Gang und schaue mich um, die Bahn fährt mit einem harten Ruck an. Der Wagon ist fast leer, obwohl der Bahnsteig voll gewesen war. Das Rauschen der Stadt strömt warm mit 70 Kilometern pro Stunde durch die angekippten Fenster. Eine Windböe trifft mich, sie riecht stark süßlich. Ein Mann steht in einem Viererabteil zwischen den Sitzen, er hält das Gesicht an die Scheibe gedrückt und atmet die frische Luft durch den Fensterspalt. Ich wundere mich erst noch, aber der süße Geruch wird stärker. Ich lehne mich leicht in den Gang hinein und sehe ganz hinten im Waggon zwei Männer liegen. Einer auf der Sitzbank des Vierers rechts, er trägt kurze Hosen und seine Beine sind seltsam ineinander verdreht. Ich sehe dunkle Flecken auf seiner Hose, sein Oberkörper und sein Gesicht liegen so, dass ich sie nicht sehen kann. Auf der anderen Seite sehe ich einen Kopf unter der Sitzbank auf dem Boden liegen, ein Spuckefaden glitzert in der Sonne und verbindet das oben und ganz unten. Er schnarcht leise, seine Wangen sind rot und in seinem buschigen Bart hängen Essensreste. Eine Pfütze hat sich auf dem Boden ausgebreitet. Wie eine kleine Flut läuft sie langsam von der einen Seite des Wagens zur anderen.


Wir halten auf offener Strecke. Der Wind fällt weg und der Geruch beißt sich durch meine Nasenwände hinein in meine Lunge und zersetzt langsam mein Herz. „Das man sich so jehen lassen muss.“ Ich schaue in Richtung der Stimme. Der Mann, der mit dem Gesicht am Fenster hängt, schaut mich an. Er guckt gequält, er zieht die Nase in Falten und fächert sich mit einem Stück Papier Luft zu. „Ick versteh das nicht. Es jibt doch was für Leute wie die.“ Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll und sehe mich mit meinen Schultern zucken. Wir schauen uns einen Moment zu lang an und blicken beide wieder in Richtung der Beine und des Gesichts. Die Bahn fährt weiter, der Mann hält wieder die Nase aus dem Fenster. Eine Bierflasche rollt klimpernd um einen Sitz herum in meine Richtung. Sie knallt schließlich gegen eine Trennwand, etwas Bier läuft heraus. Ich starre auf die grüne Flasche, in der sich die Sonne so schön bricht, als gäbe es den süßen Geruch in der Luft nicht. „Nächste Station: Storkower Straße“ sagt die Stimme aus dem Lautsprecher. Mit einem lauten Schnarcher öffnet das Gesicht mit dem Spuckefaden die Augen. Sie sind rot und müde. Mein Herz macht einen Sprung vor die S-Bahn. Seine trockenen Lippen öffnen sich, eine Art Knurren kommt dazwischen hervor. Dann dreht er sich um und ich sehe nur noch seinen Hinterkopf.


Die Bahn hält mit einem Surren, das es nur in Berlin gibt. Als sich die Türen öffnen, sehe ich draußen eine Gruppe Frauen stehen, sie tragen alle das gleiche T-Shirt. Auf jedem steht „Majas letzter Freiflug“.  Eine hat eine Bienenkappe auf dem Kopf. Auf ihrem T-Shirt steht: „Ich bin Maja.“ Ich laufe an ihnen vorbei, sie lachen und kichern, ich kann die kleinen Schnapsflaschen in ihren Taschen klimpern hören. Als die Tür sich schließt, höre ich eine sagen: „Mädels, hier stinkt’s wie im Puff.“ Die rote Lampe leuchtet und die Bahn fährt ab. Ich schaue hinterher und sehe, wie die Nase des Mannes am angekippten Fenster langsam kleiner wird.


III

Auf dem Bahnsteig scheint die Sonne. Als das Geräusch der Bahn langsam leiser wird, höre ich eine Grille zirpen. Links am Ende des Bahnsteiges, wo die Signalanlagen für die Züge stehen, steht ein Mann mit einem Fotoapparat. Vermutlich ein Trainspotter. Das Objektiv seiner Kamera macht einen großen Schatten auf dem Boden. Ich laufe um das verwahrloste Bahnwärterhäuschen herum, seine Scheiben sind mit Holz verrammelt, jemand hat einen großen roten Penis auf das Holz gemalt. Auf den Eiern wachsen kleine Stoppeln. Hinter dem Häuschen steht eine junge Mutter mit ihrem Sohn, ich schätze ihn auf vier. Der Junge hat ein Brötchen in der Hand und sieht verheult aus. Die Mutter schaut ohne Pause auf ihr Telefon und ihre Augenbrauen machen einen Schatten auf ihrem Gesicht. Der Junge sieht mich an, als ich um die Ecke des Bahnhauses komme. Seine Augen sind blau, er wirkt freundlich, er hat kurze braune Haare und einen wachen Blick. An seinem linken Mundwinkel hängt ein Stück weiches Brötchen.


Der Junge zieht an der Hand seiner Mutter und redet mit ihr. Ich verstehe ihn nicht ganz. „Mama… der Mann da…“ Die Mutter schaut für eine Sekunde von ihrem Telefon hoch und in meine Richtung. Sie mustert mich, dann schaut sie wieder auf den kleinen Bildschirm in ihrer rechten Hand. Ich kann ein Spiel sehen, bunte Steine liegen übereinander. Es macht Pling und Plöng. Der Junge schaut mich weiter an. Wieder zieht er am Arm seiner Mutter. Die reißt sich los, geht einen Schritt zurück, beugt sich nach vorn und schreit den Jungen an. Es geht vor allem um ihre Ruhe und dass er nerven würde. Dann schickt sie ihn mit einem schnurgeraden Fingerzeig auf eine Bank, die ein paar Meter weit weg steht. Ihr Arm sieht dabei so flach aus wie ein Bügelbrett. Der Junge beginnt zu zittern, ich kann sehen, wie sich seine Augen mit Tränen füllen. Es ist mehr ein Schluchzen als ein richtiges Weinen. Er jammert, die Mutter grunzt genervt, dann packt sie den Jungen am Arm. Ich kann sehen, wie seine Haut am Oberarm sich zieht. Sie zerrt ihn zur Bank und mit einem Stoß setzt sie ihn hin. „Hier bleibst du jetzt, ist das klar? Sonst raste ich aus.“ Sonst, denke ich.


Die Mutter geht ein paar Schritte zur Seite und wendet sich ab. Ihr Kopf sitzt tief zwischen den Schultern. Der Junge hockt weinend auf der Bank. Seine Beine reichen nicht bis nach unten, er schwingt sie hin und her und redet leise vor sich hin. Er trägt Sandalen, darunter Socken mit Spiderman darauf. Auf der linken Seite von mir aus gesehen ist ein Riemen kaputt. Der Mann mit dem Fotoapparat läuft an uns vorbei. Als er auf Höhe der Mutter ist, bleibt er kurz stehen. In seinem Gesicht steht eine Frage, sein Körper strafft sich und er holt tief Luft. „Auf Gleis 2 fährt jetzt ein: S42 nach Ostkreuz, Treptower Park, Neukölln.“ Der Mann mit dem Fotoapparat dreht hektisch seinen Kopf in Richtung der Gleise. Dann rennt er zum Anfang des Bahnsteiges und macht seine Kamera scharf. Die Mutter ist in der Zwischenzeit Game Over gegangen. Sie packt ihren Sohn am Arm. „Komm jetzt.“ Aber der will nicht, er hält sich an der Sitzbank fest. Die aber ist aus Metall, die Zwischenräume auf der Sitzfläche sind nicht groß genug, als dass er sich wirklich festhalten könnte. Stolpernd muss er seiner Mutter hinterher, sein Weinen macht ein seltsames Echo und übertönt die Grille. „Und wenn wir jetzt gleich in der Bahn sind, dann ist aber Ruhe! Klar?“ Die Türen öffnen sich zischend, niemand steigt aus, das Weinen des Jungen verschwindet im Waggon. Ich stelle mir vor, wie seine Spidermansocken unter der Sitzbank hin und her schwingen. Die rote Lampe über der Tür leuchtet, surrend fährt die Bahn los. Entgegengesetzt. Dann ist Ruhe. Nur die Kamera des Trainspotters klickt. Das linke Schlusslicht der S-Bahn leuchtet nicht.  


IV

„Und was haben Sie jetzt vor?“ Der Mann von der Arbeitsagentur ist jung, nicht viel älter als ich. Er trägt ein blau-rotes Hemd, Jeans, eine Designerbrille, auf seinem Schreibtisch steht das Bild einer blonden jungen Frau an einem Strand. Sie trägt einen Strohhut. Ich möchte antworten, aber es klopft an der Tür. Der Mann mit der Brille bittet herein. Eine Frau steckt ihren Kopf durch den Türspalt, sie sieht gehetzt aus: „Hallo, mein Name ist Kowski, wir hatten eigentlich jetzt Termin, aber die S-Bahn ist hängen geblieben.“ Hängen geblieben, denke ich. Im Gestrüpp. Mein Sachbearbeiter überlegt, seine Stirn legt sich in kleine jugendliche Falten. Draußen vor dem angelehnten Fenster rauschen die Autos, gegenüber steht ein altes Bürogebäude, in dessen kaputten Glasscheiben sich die Sonne spiegelt. „Eigentlich machen wir ja so etwas nicht, Frau Kowski. Termin ist Termin. Da müssen sie ein anderes Mal wiederkommen.“


Frau Kowski wird rot. „Aber dit können sie doch nicht machen, ick brauch doch das Geld. Das wissen sie doch. Ick wär ja pünktlich gekommen, aber die blöde S-Bahn. Könnse nicht mal ne Ausnahme machen? Ick weiß doch sonst nicht, was ick machen soll.“ Das Hemd des Sachbearbeiters bekommt Beulen. Er schaut mich fragend an. Ich nicke. „Ja dann Frau Kowski, kommen sie rein. Da haben sie aber Glück, dass der junge Mann sie hier vor lässt.“ Ich frage mich, wann ich wohl aufhöre, ein junger Mann zu sein. Ich stehe auf, Frau Kowski fällt in den Raum, zwängt sich an mir vorbei und setzt sich schwer auf den Stuhl, an dem noch meine Jacke hängt. Behutsam ziehe ich sie ihr hinter dem Rücken weg und gehe nach draußen. Als ich mich umdrehe, um die Tür zuzumachen, zwinkert mir der Mann mit dem Hemd noch schnell zu.


Ich setze mich auf einen der Wartestühle auf dem Gang. Er knarrt, als ich ihn von der Wand nach unten klappe. Der Gang ist lang, das Echo zuknallender Türen, scheuernder Schuhe auf Treppenstufen und von gedämpften Stimmen fliegt durch die Luft. Ein Mann kommt aus einer Tür, er trägt einen Aktenordner unter dem Arm. Er nickt mir zu und läuft dicht an mir vorbei. Vor lauter Unangenehmheit blicke ich nach unten auf meine Schuhe, ich habe extra die guten Turnschuhe angezogen, warum weiß ich auch nicht so genau oder will es nicht wahr haben. Ich höre, wie der Mann eine Tür neben mir öffnet und sie leise wieder schließt. Was wohl in dem Ordner stand. Mein rechter Schnürsenkel ist offen. Untereinander, Schlaufe machen, drum herum und durchziehen. Durch die Tür kann ich Frau Kowski hören, sie redet laut und ihre Stimme klingt heulend. Unter der Tür bewegt sich ihr Schatten hin und her, als würde sie auf und ab hüpfen. Auf dem Boden unter meinen Schuhen verläuft eine schnurgerade Linie, genau in der Mitte des Ganges. Vermutlich haben die Handwerker hier den Belag zusammengeklebt. Ich stelle mir vor, wie Frau Kowski auf dem schmalen Grat balanciert, ihre Schuhe stehen unter meinem Klappstuhl. Der Mann mit der Brille steht applaudierend in der offenen Tür und feuert sie an. Es sind Kreidemarkierungen auf dem Boden, je weiter sie kommt, desto mehr Geld gibt es im Juli. Frau Kowski jammert dabei: „Aber sie wissen doch, ick brauch das Geld…“


Ich stehe auf und gehe ans Ende des Ganges zum Fenster. Es ist ein schöner Tag, der Himmel ist blau und die Scheiben sind frisch geputzt. Keine Flecken trüben die Sicht auf die Klarheit der morgendlichen Juniluft. Ich kann die S-Bahn-Trasse und den Bahnhof sehen, gerade fahren zwei Züge aneinander vorbei. Die S41 im Uhrzeigersinn, die S42 entgegengesetzt. Ich öffne das Fenster, das Surren der Bahnen, das gibt es nur in Berlin. Unten an der Tankstelle putzt ein Mann sein Auto, wenn er die Tür bewegt, reflektiert die Sonne im rechten Außenspiegel und blendet mich. „ Wollen wir dann?“ Ich drehe mich um und sehe gerade noch, wie Frau Kowski im Treppenhaus verschwindet. Ich höre sie von weitem jammern. Ich sage: „Ja, ich komme.“ Der karierte Mann geht in sein Büro mit dem Strohhutbild am Strand. Ich schließe das Fenster und schaue noch mal hinaus. Dabei spiegelt sich mein Gesicht in der gut geputzten Scheibe. Ich sehe besorgt aus.

.felix wetzel.

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