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#21 // Du nicht!




Herr Jacobi war das, was Menschen einen ruhigen Zeitgenossen nennen. Er war stilvoll gekleidet, machte selten Lärm, richtete sich nach der Meinung der Mehrheit und eckte nicht an. Er störte keinen. Menschen empfinden das als angenehm, diese Zeitgenossen bedrohen sie nicht in ihren Zielen. Deshalb luden sie Herrn Jacobi hin und wieder zum Essen in die Kantine ein, schrieben ihm höfliche Karten aus dem Urlaub oder machten ihm Platz in der Straßenbahn. Sie betrachteten ihn nicht als Hindernis. Aber auch nicht als Chance. Deshalb kam er nie dahin, wo das passierte, was wichtig war. Herr Jacobi war für das Glück unsichtbar, als hätte ihn jemand mit einer Zaubersalbe eingerieben. Herr Jacobi nahm seine Unsichtbarkeit meist ruhig zur Kenntnis. Aber innen war er alles andere als ruhig. Er sehnte sich danach, mitmachen zu dürfen.

Seit 24 Jahren arbeitete er im gleichen Büro. Die Topfpflanzen hatte alle er angeschafft, in der Küche stand bereits die sechste Kaffeemaschine seiner Ära. Die Kollegen grüßten ihn höflich, respektvoll sogar, weil er schon so lange da war. Hinter seinem Rücken aber fragten sie sich, wie er das so lange aushalten konnte und ob er keine Ziele im Leben hätte. Herr Jacobi wusste, dass die Leute das sagten. Still hoffte er seit vielen Jahren, dass ihn mal jemand darauf ansprach. Dann würde er etwas Schlaues sagen, mit leicht angehobener Stimme, an das sie noch in vielen Jahren denken würden. Aber nicht mal das passierte. Es war, als ob neben dem Glück auch der Streit ihn übersehen würde. Sein Chef hatte in 24 Jahren einmal mit ihm geredet. Das war auf der Weihnachtsfeier gewesen, am Büffet. „Entschuldigen Sie… Herr…Herr…“ „Jacobi!“ „Ja, genau, Herr Jacobi, ob sie mir wohl mal das Kartoffelpüree reichen könnten?“ Als Herr Jacobi ihm die Schüssel reichte, fiel der Löffel heraus und etwas Brei machte einen Fleck auf dem Sacko seines Chefs.

Wenn irgendwo eine Gruppe Menschen zusammen stand, fühlte Herr Jacobi sich sofort unwohl. Wie ein Puzzleteil, das versehentlich in eine andere Packung geraten war. Nicht falsch an sich, aber fehl am Platze. Manchmal kannte er jemanden in der Runde, dann stellte er sich an mutigen Tagen hinzu, wurde vorgestellt, von allen begrüßt und in Sekunden vergessen. Dann hörte er den anderen zu und bewunderte das Alphamännchen in der Runde, dem die Herzen zuflogen und das Lachen sicher war. Die Prominenten im Fernsehen beneidete er um ihren Mut, aus nichts etwas zu machen und sich von allen begucken zu lassen. Herr Jacobi war leider keine Rampensau, er war eher eine Art Stillleben. Er war nicht hässlich, normal groß, seine Nase knollig, die Augenbrauen buschig, er pflegte sich und hatte studiert. Seine Stimme war nur ein wenig lauter als ein Küchenlüfter. Man übersah ihn da, wo die Menschen ungern übersehen werden: bei Beförderungen, beim Talentewettbewerb und bei der Herrenwahl. Manchmal stellte er sich vor, wie er schreien würde, so laut, dass alle ihn hörten und zuhören mussten. Aber er wusste nicht, was er genau sagen sollte, er war sich nicht sicher. Er wollte sich einfach niemandem aufdrängen. Und weil er das nicht wollte, musste ihn auch niemand hinzunehmen.

Als er 13 war, hatten die Jungs in seiner Klasse einen geheimen Club gegründet. „Die Wölfe“ Alle aus der Klasse machten mit, nur zu Herrn Jacobi sagten sie: „Du nicht.“ Damals hatte er sich abends in den Schlaf geweint, weil er nicht verstand, was an ihm nicht gut genug sein sollte. Herr Jacobi wurde das Gefühl nicht los, dass er störte. In manchen Momenten schien ihm die Welt verschlossen und der Schlüssel steckte abgebrochen im Zylinder. Er schaute gern Filme und betrachtete besonders neidisch Schauspieler mit großen Nasen. Gerard Depardieu, Woody Allen, Mike Krüger. „Die haben es auch geschafft.“, dachte er sich dann. Nur ihn hatte niemals jemand ermutigt, etwas Außergewöhnliches zu tun. Als er seinen Großeltern in der Pubertät erzählte, dass er gern in einem anderen Land studieren würde, hatten sie zu ihm gesagt: „Du kannst deine Mutter nicht allein lassen.“ Beim Kinderarzt sagten sie immer: „Der ist zu dünn. Der wird nichts.“ Damals rieben sie ihn mit der Zaubersalbe ein, die bis heute wirkte.

Als Herr Jacobi 18 wurde, hatte ihm seine Mutter erzählt, dass er ein Unfall war. Sie hatte ihn damals abtreiben wollen. Sein Vater und dessen Eltern wollten ihn nicht, sie waren in der Partei. „Eine Schande, so unehelich“, hatten sie gerufen. „Ihr seid noch viel zu jung.“ Am jüngsten damals war aber Herr Jacobi gewesen und der hatte Glück, dass seine anderen Großeltern seiner Mutter sagten: „Wir helfen dir. Tu das nicht.“ Dabei waren die auch in der Partei. Der Termin zur Abtreibung wurde abgesagt und Herr Jacobi durfte sein Glück versuchen. Aber so richtig haben wollte ihn seitdem niemand. Die böse Großmutter hatte einmal die Tür vor seiner Nase zugeschlagen, als er sie um Hilfe gebeten hatte. Von drinnen hatte er sie noch schimpfen hören: „Denen helfe ich bestimmt nicht!“

Das Außergewöhnlichste, das er jemals getan hatte, war als er seine heutige Frau kennengelernt und sie gefragt hatte, ob sie mit ihm zum Schnitzeltag in der Kantine essen würde. Da hatte sie genickt und „Sehr gern.“ gesagt und Herr Jacobi war stolz. So stolz, dass er abends extra lang geduscht hatte, um die Salbe abzubekommen. Er wollte auf jeden Fall vermeiden, dass das hübsche Fräulein aus der Buchhaltung ihn schnell wieder übersah und womöglich sogar vergaß. Es hatte funktioniert. Bis heute war sie der einzige Mensch, für den er nicht unsichtbar war. Sie sah sofort, wenn er traurig war, wenn er mal wieder nicht dabei sein durfte oder sich nicht traute. Dann strich sie ihm über den Kopf und sagte liebevoll: „Die Welt ist schlecht, Jacob, aber du nicht. Du nicht.“

.felix wetzel.

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