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  • AutorenbildFelix

#20 // Santiago



Johnny saß auf seinem Segelboot und es ging kein Wind. Drei Flaschen Schnaps machten eben noch keine Flut.  


Er hatte völlig die Orientierung verloren. Der Nebel um die Jolle herum war dicht, man konnte kaum zehn Meter weit sehen, das Meer war ein matter Spiegel. Ein weißes Tuch hing zwischen ihm und der Welt. Still war es hier draußen, die See war nicht mehr als eine trübe Pfütze am Straßenrand der Ozeane. Aber es reichte, um ihm Angst zu machen. Kein Mucks machte die Welt, in seiner Brust stand ein abgeknickter Segelmast. Wie lang genau er hier schon fest hing konnte er nicht recht einschätzen. Zwei Mal war es bereits dunkel geworden, aber nie wieder richtig hell. Er hatte absichtlich keine Uhr, kein Telefon, kein GPS mitgenommen, vermutlich waren es etwa drei Tage gewesen. Zwischendurch hatte er mehrmals geschlafen, es könnten also auch vier Tage gewesen sein, oder nur einer. Das kleine Einhand-Segelboot hatte außer einem niedrigen Unterschlupf und einer Nische für Proviant keinerlei Antworten an Bord, die ihm weiter halfen. Der Außenborder hatte den Geist aufgegeben, der kleine Rest Benzin schwappte unter seiner Sitzbank. Johnnys linke Hand schmerzte von den Reparaturschlägen. Eine Flasche Schnaps von ursprünglich dreien war noch übrig. Die erste war bereits eine Flaschenpost, die zweite leerte sich soeben in seinen Mund. Wenn schon Flaute, dann wenigstens Auf und Ab im Kopf.


Johnny starrte in den Nebel und summte ein Lied, Yesterday. Er mochte die Beatles nicht, aber der Song war extrem eingängig, sodass er ihm stets als erstes einfiel, wenn er ein Lied singen wollte. Der Nebel verschluckte seine Stimme, so wie er das Licht nicht mehr los ließ. Das letzte Mal, dass er Land und ein anderes Schiff gesehen hatte, war ewig her. Vermutlich würde ein Containerriese oder ein Kreuzfahrtschiff ihn in diesem Nebel eher überfahren, als retten. Vom Radar der Welt war er schon längst verschwunden, sonst eine schöne Sache, hier draußen machte es ihm Sorgen. Wenn sich nicht bald etwas bewegte, dann war er hier verloren. Die Verzweiflung über diesen Gedanken hatte er bereits nach der ersten Flasche Schnaps in den Nebel geschrien. Aber die Wut über seine Hilflosigkeit war schnell wieder verschwunden: Nichts machte ruhiger, als die völlige Abwesenheit von Dingen, die die eigene Verzweiflung wahrnehmen konnten. Johnny hatte noch nicht mit sich abgeschlossen, er hatte einen Rest Wasser und Cracker, ewig konnte die Flaute ja nicht andauern und eine Flasche Schnaps war auch noch da. Wenn nur diese Stille nicht wäre. Mit dem rechten Fuß tippte er den Takt zu Yesterday. Dabei stieß er mit der Fußspitze an die Feueraxt auf dem Boden, die er im rostigen Werkzeugkasten der Jolle gefunden hatte. Sein letzter Ausweg hatte einen gespaltenen Holzgriff und lag schwer in der Hand.


Johnny war kein Seemann, nie gewesen. Er hatte keinen Bart, keinen Anker tätowiert, aber es steckte ein Schwert in seinem Herzen. Er kannte das Meer nicht, wusste nicht, was es bedeutete, wenn der Himmel grau war und die See flach, wie die Formen der Wolken hießen und welche Fische man essen konnte. Er wusste nur, dass Nebel und Windstille keine gute Kombination waren, wenn man in einem Segelboot saß. Er war ein Stadtkind, aufgewachsen im Kiesbett, zwischen Eckkneipen und Parkplätzen, dem man seine Hilflosigkeit in der freien Natur sofort anmerkte. „Wo willst du denn hin mit dem alten Kahn?“ hatte ihn der Fischer gefragt, von dem er die Jolle gekauft hatte. „Erst mal raus. Einfach weg.“ Der alte Mann hatte ihm daraufhin in die Augen geschaut. „Komm vorbei, wenn du wieder da bist. Dann trinken wir zusammen.“ Johnny hatte genickt, versprochen hatte er es, und war gleich morgens nach Sonnenaufgang mit Hilfe des Fischers in See gestochen. Erst war auch alles gut gegangen, die Küste war schon bald hinter ihm verschwunden und hatte einer großen Freiheit Platz gemacht, die Wellen hatten weiße Kronen getragen und der Himmel war so weit gewesen, dass Johnny sich vorstellte, wie sein kleines Boot einfach den Horizont übersprang und oben weiter fuhr. Der Außenborder hatte ruhig vor sich hin geblubbert und der Schnaps war voll gewesen. Irgendwann war Johnny über seinen vielen neuen Gedanken eingeschlafen und als er die Augen wieder geöffnet hatte, wollte die Welt ihn unter den Tisch fallen lassen.


Er dachte darüber nach, warum er hier war, wie es soweit kommen konnte. Das Meer war ihm als der einzige Ort vorgekommen, der nicht so wie alle anderen war. Die Flut als Fluchthelfer, die Wellen als Antrieb. Weg aus der alten Welt, hin in eine Neue, den Horizont auswechseln. Aber hier, in der Kurzsichtigkeit der Windstille, konnte er seine Flucht nicht vollenden. Nach Dänemark hatte er segeln wollen, wenn es ganz schlecht gelaufen wäre, vielleicht bis nach Schweden, im besten Falle wäre er im Kreis gefahren und vielleicht in Polen oder bei Kiel gelandet oder von einem Minensucher gefunden worden. Jetzt war er auf sich selbst gestrandet und seine Sandbank pumpte dunkelrotes Blut durch seinen Körper. Der Schraubverschluss der dritten Flasche Schnaps klemmte. Johnny nahm die Axt unter seinem Regenmantel hervor und klopfte vorsichtig gegen den Schraubverschluss. Es half nichts. Das Blech bekam Dellen, der Lack war ab, aber der Klare blieb in seinem durchsichtigen Gefängnis. Johnny legte die Flasche auf die Sitzbank, der Flaschenhals schaute darüber hinaus. Mit einem schnellen Hieb trennte er den Verschluss gemeinsam mit einem großen Stück Glas von der Flasche. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Gewalt konnten einem auch Dinge antun, die sich nicht bewegten.


Neben dem Boot plätscherte es. Jedes Geräusch, das er nicht selbst machte, jede Bewegung, die nicht von ihm kam, war eine Erlösung. Johnny schaute rechts von sich ins Wasser. Die See bewegte sich träge, doch an einer Stelle stiegen Luftblasen auf. Nichts zu sehen, er schaute mit Fischaugen in den Nebel. Wieder plätscherte es, dieses Mal aber auf der anderen Seite der Jolle. Er lehnte sich nach links hinüber und sah noch eben einen Fisch abtauchen. Ein kleiner Strudel drehte sich an der Oberfläche, ein paar Algen drehten sich mit hinab. Schön sah das aus, dachte Johnny, wie ein Ausgang von oben nach unten. Der Fisch tauchte nicht mehr auf, keine Luftblasen mehr, auf denen er davon fliegen konnte. Johnny dachte wieder an die Axt. Er könnte sich niemals selbst verletzen, dafür war er nicht mutig genug. Aber ein Loch in sein Boot zu hauen, das würde wieder Bewegung in die Sache bringen. Johnny aß einen Cracker und betrachtete die Axt vor seinen Füßen mit Wohlwollen.

„Wie willst du dein Boot eigentlich nennen?“ Der Fischer stand mit einem roten Farbeimer und einem großen Pinsel an Steuerbord. Johnny hatte nur mit den Schultern gezuckt. „Jung’, dein Boot braucht einen Namen, sonst brauchst du gar nicht erst loszufahren. Früher waren es Frauennamen. Vielleicht hast du ein Mädchen?“ Johnny hatte den Kopf geschüttelt. „Kein Mädchen. Dann irgend was, das dir etwas bedeutet?“ Wieder musste Johnny passen, ihm fiel auf die Schnelle nichts ein. „Ohne Namen lass ich dich nicht fahren!“ Johnny überlegte noch einmal. Dann hatte er gesagt: „Schreiben Sie: Santiago.“ „Warum gerade Santiago?“ „Ach, hab ich Mal in einem Buch gelesen.“ „Ein Buch, was? Ist es gut ausgegangen?“ „Kann mich nicht erinnern.“


Johnny schaute vorn zum Bug, an die rechte Seite seines Bootes. Die Farbe war noch nicht ganz trocken gewesen, als er aufgebrochen war. Das Wasser hatte die untere Hälfte des Wortes fort gewaschen. Rote Farbstriemen teilten das Weiß. Die kleinen Wellen vorn am Bug machten Johnny müde, ihm fielen die Augen zu, der Alkohol zog ihn wie ein Anker tief in sich selbst hinab. Er legte seine Füße hoch, nahm die Axt auf seinen Schoß und schlief mit der Schnapsflasche in der Hand ein. In seinem Traum malte er mit einem großen Eimer schwarzer Farbe die Häuser seiner Straße an, während die Beatles auf einem Balkon ihre größten Hits spielten. Als er wieder erwachte, war alles um ihn herum weiß, der Unterschied zwischen Himmel und Wasser war fließend. Johnny wurde schwindelig, als er versuchte, in der Entfernung den Horizont auszumachen. Es regnete einen dünnen Wasserfilm, er war nass bis auf die Unterhose. Immer noch ging kein Wind, die See spiegelte den Himmel und umgekehrt, der Nebel war ein schwerer Vorhang in einem Theater ohne Publikum. 


Johnny kramte den Brief aus seiner Tasche, Crackerkrümel und Tabak klebten daran. Er zog das Papier aus dem Umschlag, auf dem seine alte Adresse stand. Der Regen machte sofort dunkle Flecken auf dem Weiß, er liebte den Gedanken, dass das Wasser die Worte einfach fort waschen könnte, so wie man einen Rest Butter mit Spülmittel vom Teller löste. Er hatte Briefkästen immer gehasst, die guten Nachrichten kamen nie per Post. Das Schicksal machte sich bei unangenehmen Neuigkeiten keine große Mühe und zahlte lieber Porto. Johnny holte seine klammen Zigaretten aus der Tasche und rauchte, während der Brief sich langsam auflöste. Seine Zigarette knisterte, der Rauch fand einen Weg durch die Regentropfen nach oben.


Johnny musste pinkeln. Er schnippte seine Kippe ins Boot und ließ den Brief auf der Sitzbank liegen. Als er aufstand fiel die Axt von seinem Schoß auf die Schnapsflasche, die auf den Boden gerollt war. Mit einem lauten Knall zersprang sie in tausend Teile, während der Schnaps sich mit dem Salzwasser im Boot vermischte und die Scherben aussahen, als hätten sie niemals zusammen gehört. Er hatte seinen letzten Verbündeten verloren. Johnny kickte die Flaschenreste mit dem Fuß über Bord und schrie seine Wut hinaus in den Nebel.


„Fuuuuuck!“ Die Tränen aus seinen Augen vermischten sich mit dem Regenwasser in seinem Gesicht. Die Stille nach seinem Schrei kam schnell, Johnnys setzte sich zurück auf die Holzbank und fiel in sich zusammen, alle Luft aus ihm war jetzt im Nebel. Wieder plätscherte es neben dem Boot. Johnny starrte auf den Strudel und die Luftblasen, die aus der Tiefe hochstiegen, der Fisch aber war längst nicht mehr zu sehen. Das reichte. Er sprang auf, nahm die Axt und schlug mit drei kräftigen Schlägen ein unterarmgroßes Loch in den Boden der Santiago. Ein Wirkungstreffer, sofort flutete das Wasser den Boden des Schiffes. Fantastisch, dachte Johnny, diese Veränderung war fantastisch. Er setzte sich zurück auf die Holzbank, nahm einen Cracker aus seiner Jackentasche, biss hinein und schaute sich sein Werk an. Er lauschte dem Geräusch des Wassers, das sich blubbernd und platschend, langsam aber sehr bestimmt sein Boot nahm, das durch das Boot floss, als würde es sich bestens darin auskennen. Der Horizont begann sich schon schräg zu legen und das Holz der Santiago ächzte unter der unerwarteten Umarmung des Wassers. Als die See in Johnnys Gummistiefel floss, gluckste sie fast freudig. Was für ein schönes Geräusch, dachte er. Er musste an den Fischer denken und an sein Versprechen, das nun gebrochen war. Aber Johnny war sich sicher, dass er das verstehen würde.

.felix wetzel. 

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