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  • AutorenbildFelix

#12 // Libero


Ein kleiner Junge fährt mit dem Bus zum Fußballtraining. Er hat eine große Sporttasche um die Schultern hängen, die Fußballschuhe sind geputzt, eine Strafmark für die Mannschaftskasse kann er sich nicht leisten. Die Tasche ist etwas zu groß für seinen Körper, er könnte selbst darin sitzen und den Reisverschluss von innen zumachen. Er steht im Gang, sich neben jemanden zu setzen traut er sich nicht. Er ist Libero, da lässt man die Gegner auf sich zukommen.


Seine Linie fährt an den alten Russenkasernen vorbei. Die Häuser sind noch da, die Russen nicht mehr. An den Toren hängen noch goldene Sterne. Der Bus fährt hier schon immer lang. Eine schnurgerade lange Straße entlang. Die Haltestellen reihen sich wie Perlen ohne Glanz aneinander. Die Menschen steigen ein und aus, manche rempeln aus Versehen die große Sporttasche an. Der Junge hält sich an der Stange fest, seine Knöchel an den Fingern werden dabei weiß.


Die nächste Haltestelle muss er aussteigen. In den Ikarus-Bussen befindet sich der Knopf für den Haltewunsch über der Tür. Unerreichbar für einen Libero in der D-Jugend. Der Konstrukteur hatte wohl keine Kinder. Er muss also jemanden fragen. Er schaut sich um. Eine alte Frau mit Kopftuch sitzt auf ihrem Platz und starrt ihn durch eine große Brille an. Über ihren Lippen ein paar schwarze Haare, die sich zusammenschließen zu einer unüberwindbaren Mauer. Zwei Männer in Lederjacken unterhalten sich laut. Sie haben ihn nicht bemerkt. Das Herz des Jungen schlägt so laut, dass der Busfahrer vorn kurz überlegt, ob er eine Panne hat.


Manchmal konnte er andere fragen. An guten Tagen war ihm sein Stottern egal. Dann da da dann kniff er die Augen zusammen und quälte sich durch den Satz. Im Prinzip waren nur die Satzanfänge ein Problem. Aber heute ging es nicht. Er wusste genau, dass er den Satz nicht fertig bekommen würde. Der Satz würde mit den anderen Fahrgästen weiterfahren, bis zur Endhaltestelle und wieder zurück. Solange bis das Training vorbei war und er wieder zu seinem unfertigen Satz einsteigen musste. Ein ewiger Fehler, der schwarz fuhr. Und die Blicke, die waren das schlimmste. Die Blicke machten ihn so klein, dass die Sporttasche ihn tragen musste.


Die Haltestelle kommt. Der Bus hält quietschend an. Der Junge schaut durch die Türen. Niemand steigt ein. Der Junge schaut sich um, niemand steigt aus. Die Tür bleibt zu. Die alte Frau blinzelt durch ihre Hornbrille, vielleicht ahnt sie was. Aber ihr roter Holzstock bewegt sich nicht. Das Herz des Jungen versucht, die Tür aufzuschlagen. Der Bus fährt wieder an, um die Kurve, zur nächsten Haltestelle. Endhaltestelle. Es gibt Entfernungen zwischen Haltestellen, die sind groß, andere kann man schnell wieder zulaufen. Der Abstand zwischen der Endhaltestelle und der des Jungen war gerade so groß, dass er immer 10 Minuten zu spät zum Training kam. Wenn er nicht fragte.


An der Endhaltestelle gingen immer alle Türen auf. Der Junge steigt aus und läuft den Weg zurück. Die Oma biegt ab zum Krankenhaus, die beiden Männer laufen zum Wald. Der Junge läuft Richtung Gartensparte. Immer wenn er hier durch muss, ist es nicht gut gegangen. Die Sporttasche schlägt gegen seinen Oberschenkel. Der Trainer wird wieder nur mit dem Kopf schütteln und keine Fragen stellen. Niemand fragte jemals. Beim Training später würde er nichts sagen müssen, solange er keinem einen Anlass dazu gab, ihn etwas zu fragen. Ein Libero lässt den Gegner auf sich zukommen. Wenn einer fragte, konnte er immer noch den Ball ins Aus hauen.

Ein paar Jahre später tauschen sie die Busse aus. Die goldenen Russensterne sind weg, dafür haben die Busse jetzt Sterne in Silber. Die Sporttasche passt jetzt. Das Stottern versteckt sich unter einer starken Zunge. C-Jugend, Umstieg aufs Großfeld steht bald an. Die Knöpfe für das Aussteigen befinden sich jetzt weiter unten. Als er das erste Mal mit einem neuen Bus zum Training fährt, bleibt er sitzen und fährt bis zur Endhaltestelle. In Gedenken an den Libero. Seine Position haben sie abgeschafft. Niemand lässt Gegner mehr einfach auf sich zu kommen. Auch nicht Haltestellen. Er ist jetzt Abwehrchef. Ein Leben lang.


.felix wetzel.


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